Unter dem Eis
Untersuchung auf den Tisch. »Mir geht es auch gut.«
Millstätts Schokoladenblick streift den Umschlag, heftet sich dann auf ihr Gesicht.
»Offiziell…«
»Und inoffiziell ebenfalls.« Sie klingt wie eine übereifrige Schülerin, sie kann es nicht ändern. Sie ist nicht hierher gekommen, um über ihr Aussehen zu reden, sie will ihren Job zurück, und das heißt, dass sie Millstätt davon überzeugen muss, dass er ihr wieder vertrauen kann. Auf einmal erscheint ihr dieser wahnsinnige Moment auf dieser gottverdammten Lichtung im Wald, damals, als Manni und sie zu spät gekommen sind, wieder ganz nah. Gleich danach hatte Millstätt Manni versetzen lassen, auch wenn sie ihn gebeten hat, das nicht zu tun. Aber warum hätte ihr Chef auf sie hören sollen? Schließlich hatte sie versagt und sich beurlauben lassen.
»Nächste Woche verschwinden einige Kollegen in den Urlaub, zwei sind krank, Arbeit gibt es auch genug, du wirst also keine Schonzeit bekommen.« Millstätt sieht sie immer noch an. Forschend. Abwägend.
»Die will und brauche ich auch nicht.« Wieder hat sie zu hastig gesprochen, sie zwingt sich, den Blick nicht zu senken. Was sieht er in ihr? Einen Unsicherheitsfaktor oder, wie früher, die förderungswürdige Kollegin? Sie kann es nicht sagen. Sie denkt an die Wahrheiten aus dem Stuhlkreis: Du kannst nicht alles im Leben bestimmen. Du kannst deine Gefühle nicht verleugnen. Akzeptieren, loslassen, sich selbst verzeihen, immer wieder das. Wie unendlich banal. Sie zwingt sich, Millstätt immer weiter in die Augen zu sehen. Ich will zurück, denkt sie. Ich wusste es lange nicht, du hast Recht, ich bin abgehauen, aber das ist vorbei, glaub mir, das ist vorbei.
Dann, plötzlich, entspannen sich Millstätts Gesichtszüge und er wirft den Arztbericht mit einer lässigen Bewegunghinter sich in ein Ablagekörbchen, als wolle er ihn so ein für alle Male aus der Welt schaffen. Doch so funktioniert das natürlich nicht, denkt sie, als sie eine halbe Stunde später allein im Aufzug steht und die Stirn an die kühle Metallwand presst. Das KK 11 war einmal ein Zuhause für sie, die Arbeit als Mordermittlerin Lebenssinn. Dann konnte sie den Tod nicht mehr ertragen, und nun glaubt sie, das überwunden zu haben, und kehrt zurück. Aber trotzdem wird nie wieder etwas so selbstverständlich sein wie in der Zeit vor Patricks Tod, nicht alle Kollegen trauen ihr so viel zu wie Millstätt und auch das Verhältnis zu ihm bewegt sich auf dünnem Eis.
Ihr Handy meldet eine SMS, während der Aufzug mit dem vertrauten Ruckeln abwärts gleitet. Ungläubig starrt Judith aufs Display: »Frankfurt–Toronto morgen 13.05 gebucht. Business Class. Open Return. Ruf mich an, Berthold.«
Manni zieht die Tür seines Büros hinter sich zu und eilt durch den stickigen Flur zum Treppenhaus. Er muss etwas essen, er braucht eine Pause, es geht nicht mehr anders, sein Magen knurrt, sein Kopf ist dumpf, am liebsten würde er heimfahren und duschen und die durchgeschwitzten Klamotten wechseln. Seine Füße kleben in den Nylonsportschuhen, die unangenehm eng geworden sind bei der verdammten Rennerei im Königsforst, aber an eine richtige Pause ist nicht zu denken. Er muss die Listen und Befragungsergebnisse durchgehen, die die Bruckner ihm auf den Schreibtisch gepackt hat, er muss Karl-Heinz Müller in der Rechtsmedizin erwischen und klar machen, dass die Analyse des vermeintlichen Dackelohrs eilt, auch wenn sie keine Leiche dazu geliefert haben, er muss Berichte schreiben, er muss die neu hereingekommenen Vermisstenmeldungen checken, er muss über die Vernehmung mit den Stadlers nachdenken, und seine Mutter gibt auch keine Ruhe. Irgendwie muss er zehn Minuten rausschinden und sie anrufen, auch wenn die Aussicht, einmal mehr in die Niederungen der kaputten Ehe mit seinem starrsinnigen, gelähmten Vater geführt zu werden, alles andere als verlockend ist.
In zwei langen Sätzen nimmt er die letzten Stufen zum Erdgeschoss, sprintet Richtung Ausgang und prallt gegen eine Frau, die aus einem der Aufzüge getreten sein muss, ohne nach rechts oder links zu schauen. Etwas knallt auf den Boden und zerspringt. Ein Handy, realisiert Manni, er muss es der Frau aus der Hand geschlagen haben. Sie stößt einen wilden Fluch aus und geht in die Hocke.
»Scheiße, verdammt, sorry, ich hab Sie echt nicht …«, Manni bückt sich ebenfalls und hebt ein Teil auf, das er als Akku identifiziert. Er hält ihn ihr hin, die Frau streicht sich widerborstige rötliche
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