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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Studierenden haben ihn beobachtet. Tagelang. Aber das Tier ist verendet. Da haben sie ihn hergebracht, Charlotte sollte die morphologische Untersuchung anleiten. Aber auf einmal weigerte sie sich. Das sei gegen die Natur. Ein anderer Doktorand hat dann übernommen. Irgendwo gibt es den Bericht sicher noch, fragen Sie meine Sekretärin.«
    »Und Charlotte?«
    »Das war nun wirklich ihr allerletzter Arbeitstag am Institut.«
    Der Professor will sein Büro nun doch verlassen. Judith springt auf und stellt sich ihm in den Weg. »Also ist sie im Streit gegangen.«
    »Sie hatte sich als Wissenschaftlerin zum zweiten Mal diskreditiert. Sie hatte kein Interesse, zu bleiben.«
    Der Professor langt an Judith vorbei, öffnet die Tür, hält sie für Judith auf und deutet eine Verbeugung an.
    »Wie hat Charlottes Vater reagiert? War er enttäuscht? Wütend? Traurig?«
    Der Professor klemmt seine Aktentasche unter den Arm. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen  –  er hat gelacht.«
    »Sie meinen, er hat seine Tochter ausgelacht? Hier im Institut?«
    »Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr.« Der Professor beschleunigt seine Schritte, beinahe sieht es so aus, als fliehe er.
    »Wer ist Terence?«, ruft Judith ihm nach.
    An der Art, wie sich seine Schultern versteifen, kann sieablesen, dass er Terence kennt. Aber er bleibt nicht stehen, sondern hastet weiter den Gang entlang. Sie holt ihn ein, als er gerade die Glastür zum Treppenhaus aufstößt.
    »Terence aus Kanada. Sagt Ihnen dieser Name etwas?«
    Der Professor sprintet die Treppe hinunter.
    Wolframs Sekretärin heißt Irene Hummel, und die Art, wie sie Judith ansieht, macht klar, dass sie für fremde Besucher keine Sekunde ihrer kostbaren Zeit opfern kann. Doch ihre stahlgraue No-Nonsense -Kühle zerfließt zu beinahe schulmädchenhafter Schwärmerei, sobald Judith den Namen Terence erwähnt.
    »Terence Atkinson, Atkinson wie die Diät«, haucht sie. »Aber so war er nicht, ganz und gar nicht, im Gegenteil, ein so sinnlicher Mensch, ein brillanter Wissenschaftler und charmant – alle waren ein bisschen in ihn verliebt.«
    »Charlotte auch?«
    »Ja, Charlotte auch.« Irene Hummel nickt energisch. »Jedenfalls soweit man bei ihr von so etwas wie Verliebtheit überhaupt sprechen kann, schüchtern, wie sie nun einmal ist.«
    Die nächsten Minuten sind äußerst effizient. Irene Hummel erweist sich als scharfe Beobachterin des Biologischen Instituts und seines Personals. Judith erfährt, dass Terence im Hause Simonis ein und aus gegangen, dass er, wie Charlottes Vater, der ihn von Toronto für ein Jahr nach Köln geholt habe, Genetiker sei. Dass er aber trotzdem Naturverbundenheit ausgestrahlt habe und die Kolleginnen und Kollegen mit Geschichten aus seiner Heimat unterhalten habe: Bären, Bieber, Elche und Eistaucher spielten darin die Hauptrollen. Vor allem die Eistaucher hatten es ihm angetan.
    »Halten Sie es für möglich, dass er Charlotte zu sich nach Kanada eingeladen hat?« Judith hält Irene Hummel die Postkarte hin.
    Die Sekretärin betrachtet das Bild, studiert die Rückseite mit gerunzelter Stirn. Dann schüttelt sie den Kopf.
    »›One day we’ll make it come true ‹ –  das kann doch alles oder nichts bedeuten, nicht wahr?«
    »Es ist nicht sehr konkret. Aber zusammen mit dem Motivdes Eistauchers – ich glaube schon, dass es so eine Art Versprechen ist.«
    »Terence war sehr höflich«, bemerkt Irene Hummel.
    »Sie meinen, der Text ist nicht ernst gemeint?«
    »Er wollte sicher nett sein, keine Frage.«
    Nett sein, denkt Judith. Ein junger charmanter Kollege, gefördert von Charlottes Vater. Was wird dieses »nett sein« alles beinhaltet haben? Wie ernst war es gemeint? Und vor allem: Wie hat Charlotte dieses »nett sein« verstanden?
    Die Sekretärin steht auf und pflückt ein Foto von der Pinnwand hinter ihrem Rücken.
    »Das ist Terence«, verkündet sie und deutet auf einen dunkelhaarigen, extrem gutaussehenden Mann, als würde das alle weiteren Fragen erübrigen.

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