Unter dem Eis
Magengegend hockt und sich von dort aus unerbittlich durch ihren Körper frisst, nicht mehr aushalten konnte. Aber genauso wenig konnte sie zu Frank ins Bett kriechen, sich in seine Umarmung flüchten und in seine unerschütterliche Wärme. Sie betrachtet das Gesicht ihres Mannes, das sich über Nacht verändert zu haben scheint, scharfkantiger wurde, vielleicht auch härter. Er verschweigt etwas und die Polizisten merken das. Und jetzt sind sie den ganzen Tag lang im Wald gewesen, mit ihren Hunden, und das lässt Martina noch mehr frieren. Bitte, Gott, bitte gib, dass der Kommissar nicht sagt, Jonny ist etwas passiert, denn das halte ich nicht aus.
Behutsam legt sie Jonnys Taschenlampe auf den Küchentisch, bittet den Kommissar, sich zu setzen, schenkt ihm ein Glas Wasser ein, fragt ihn, ob er Hunger hat. Er verneint, aber sie öffnet den Kühlschrank trotzdem, starrt hinein, braucht unendlich viel Kraft, ihn wieder zu schließen, weil es dann nichts anderes mehr zu tun gibt, als sich ebenfalls an den Küchentisch zu setzen und zu ertragen, was sie nicht ertragen will.
»Bitte, Tina, der Kommissar hat sicher nicht viel Zeit.« Franks Stimme. Dunkel, vertraut und so gefasst, dass Martina am liebsten schreien würde.
Sie geht auf den Küchentisch zu, aber was heißt gehen, ihre Knie sind weich wie der Waldmeister-Glibberpudding, den die Kinder so gern essen, ihre Füße sind so kalt, dass sie sie nicht spürt. Sie erreicht einen Stuhl, reißt ihn zurück, ein hässliches Kratzen auf dem Dielenboden, aber das ist ihr egal. Sie setzt sich und legt die kalten Finger um Jonnys Taschenlampe, widersteht dem Verlangen, einmal mehr zu prüfen, ob sie noch leuchtet, diese Verbindung zum Sohn ihrer Schwester, den sie zu lieben gelernt hat, als sei er ihr eigenes Kind, und der doch immer mehr war, viel mehr, eine höchst lebendige und unglaublich tröstliche Erinnerung an seine Mutter Susanne.
»Ich wüsste gern, ob der Hund Ihres Sohnes eine Registriernummer im Ohr trägt. Sie wissen schon, so eine Tätowierung«, sagt der Kommissar Korzilius. Er ist tatsächlich nervös, sein Jeansbein wippt unter dem Tisch.
»Ja, Dr. D. hat eine Registriernummer« , sagt Frank. »Warum, haben Sie ihn gefunden?«
»Es würde uns die Identifizierung erleichtern, falls wir ihn finden.« Der Kommissar fixiert sein Wasserglas. Er ist wie Frank, er verschweigt etwas.
»Ich will wissen, was sie im Wald gefunden haben.« Martinas Stimme klingt schrill, sie sieht, wie die Männer zusammenzucken. Sie kann es nicht ändern.
»Wir informieren Sie selbstverständlich, sobald wir in den Ermittlungen einen Schritt weiterkommen.« Diesmal sieht der Kommissar Martina an, aber das ist auch nicht beruhigend, denn das Mitleid, das sie in seinen Augen zu erkennen glaubt, jagt ihr einen weiteren Kälteschauer durch den Körper.
»Wir haben in allen Tierheimen angerufen, dort ist Dr. D. nicht.« Frank spricht zu dem Kommissar, als sei Martina nicht da.
»Können Sie mir die Registriernummer raussuchen?«
»Selbstverständlich.« Frank springt auf.
»Samstagnachmittag«, sagt der Kommissar, sobald Frank die Küche verlassen hat. »Bislang hat meine Kollegin niemanden von den Kölschen Sioux gefunden, der bezeugen kann, dass Jonny nach 15 Uhr noch im Indianerlager war.«
»Er hat also nicht im Lager geschlafen?«
»Nein. Jedenfalls nicht in dem Zelt des Bärenclans, wo sein Rucksack und sein Schlafsack lagen.«
Kälte, so viel Kälte. So viel Angst. Zwei Nächte schon ist Jonny ohne Schutz. Die Knöchel ihrer Finger sind ganz weiß, so fest klammert sie sich an die Taschenlampe. Kein Schlafsack, keine Jacke, kein Licht. Allein. Es darf nicht sein, es kann nicht sein. Es muss eine Erklärung geben, eine Lösung, eine Erlösung.
Frank kommt zurück und legt wortlos Dr. D.s Hundepass vor den Kommissar auf den Tisch. Der Kommissar wirft einen unergründlichen Blick darauf, dann hört er endlich auf, mit dem Fuß zu wippen, und sieht Frank an.
»Herr Stadler, wo waren Sie am Samstagnachmittag zwischen 15 und 19 Uhr?«
»Mal hier, mal da im Camp und auch mal ein Stück im Wald.«
»Nein«, sagt der Kommissar. »Im Camp waren Sie nicht.«
Der Tag ist wie Blei. Blei, das Elisabeths Arme und Beine beschwert. Blei, das in der Hitze zu einer zähflüssigen Masse schmilzt, die ihr den Rücken hinabrinnt, schmerzhaft, so schmerzhaft. Blei, das sich in ihre Adern ergießt und das Blut verdickt und ihr den Atem zu lähmen droht, bis sie sich kaum noch bewegen
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