Unter dem Eis
Tages ein echter Eistaucher aus Nordamerika auf einem Kühlwassersee bei Düren. Er muss Charlotte wie eine Botschaft von Atkinson vorgekommen sein, kein Wunder, dass sie den Vogel nicht sezieren wollte. Stattdessen hat sie dem kanadischen Wissenschaftler mit Piets Eistaucher-Gemälde ein Denkmal gesetzt und ist vermutlich immer weiter in ihre Träume von einem Leben als Vogelforscherin an seiner Seite geflohen, während sie ihren Vater pflegte. Und dann ist Wilhelm Simonis gestorben, und seine nun 39 -jährige Tochter hat es gewagt, ihr heiliges Eistaucher-Gemälde in sein Arbeitszimmer zu hängen. Sie ist nach Toronto geflogen, wie die Inhaberin eines Reisebüros nahe Charlottes Elternhaus bestätigt hat. Der Rückflug war für den 25 . Juni gebucht, doch Charlotte hat ihn verfallen lassen.
Ich werde mit diesem Atkinson telefonieren, von mir aus auch mit der kanadischen Polizei, hat Judith Berthold vorgeschlagen. – Du musst nach Kanada fliegen, hat er geantwortet. Ich bezahle das. – Du bist verrückt, hat sie gesagt und die Verbindung unterbrochen.
Sie erreicht den Stadtteil Kalk und parkt bei den Köln-Arcaden. Nach MTV-Norm gestylte Teenager mit leeren Gesichtern lungern vor dem Konsumtempel herum, der neben dem Präsidium aus dem Boden gestampft worden ist, dort, wo sich früher die Chemische Fabrik befand, der einstige Hauptarbeitgeber des Viertels. Niemand hatte diesen stadtplanerischen Zynismus gestoppt. Zwei Drogenabhängige mit nackten Füßen kauern auf der Treppe, gleichgültig gegen alles, was um sie herum geschieht, gefangen in ihrer eigenen, zerstörten Welt.
Die Beamten am Empfang des Präsidiums sind neu, sie lassen sich telefonisch von Judiths Abteilung bestätigen, dass sie eine Kollegin ist, bevor sie sie in den nicht öffentlich zugänglichen Gebäudebereich durchwinken, in dem die Büros des KK 11 liegen. Sechs Monate ist Judith nicht hier gewesen, trotzdem ist ihr alles vertraut: das Quietschen der Glastür, die hinter ihr ins Schloss schnappt, der Klang ihrer Schritte auf dem Steinfußboden, das beinahe unmerkliche Vibrieren,bevor der Aufzug im fünften Stock zum Halten kommt. Sie tippt den Nummerncode ein und drückt die Tür zum KK 11 auf. Der Code zumindest hat sich nicht verändert, und auch der Geruch ist noch der alte, ein Gemisch aus verbranntem Kaffee, Zigarettenrauch und Papierstaub. Irgendjemand hat zu viel Aftershave benutzt. Es ist drückend warm. Offenbar ist die Klimaanlage dem Jahrhundertsommer nicht gewachsen. Etwas flattert in Judiths Magen. Sie hat nicht zu Mittag gegessen, jetzt ist es beinahe Abend.
»Judith!« Axel Millstätt tritt auf den Flur, einen Stapel Umlaufmappen unter dem Arm. »Geh schon in mein Büro, ich bin gleich da … das hier muss unbedingt weg.«
Millstätts Büro ist großzügig geschnitten und akkurat aufgeräumt. Keine persönlichen Bilder an den Wänden, stattdessen ein Stadtplan, in dem diverse Plastikfähnchen stecken, und Magnettafeln, auf denen Dienstpläne, Telefonlisten und Material aktueller Ermittlungen befestigt sind. Auf dem Besprechungstisch stehen zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser. Judith geht zu der Magnetwand. Ein Afrikaner unbekannter Identität ist von einem genauso unbekannten Täter niedergestochen worden und verblutet, eine 51 -jährige Bankiersgattin aus dem Nobelviertel Hahnwald ist in ihrer Heimsauna buchstäblich zu Tode gekocht worden, wahrscheinlich von ihrem Ehemann, die »SOKO Tourist« fahndet fieberhaft nach einem Serientäter, der es in der Altstadt auf Touristen abgesehen hat, in einem Ehrenfelder Hochhaus deutet alles darauf hin, dass der halbverweste Leichnam im elften Stock ohne Fremdeinwirkung an den Folgen übermäßigen Alkoholkonsums gestorben ist.
»Wie du siehst, hat sich nicht viel geändert«, sagt Millstätts Stimme in ihrem Rücken.
Judith dreht sich um. »Der ganz normale Wahnsinn, ja. Wenigstens kann uns so schnell keiner wegrationalisieren, weil wir überflüssig werden.« Sie hofft, dass ihre Stimme ruhig und sachlich klingt.
»Sie versuchen es trotzdem.« Millstätt lächelt böse. »Letzte Woche erst hat so ein Heini vom Ministerium hier stundenlang in meinem Büro geklebt und über Synergieeffekteschwadroniert, die er hier zutage fördern möchte. Ich konnte ihm leider nicht helfen.«
»Obwohl du das so gern getan hättest.«
Millstätt deutet auf den Besprechungstisch. »Setz dich. Du siehst gut aus, Judith.«
»Danke.« Sie legt das Ergebnis der amtsärztlichen
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