Unter dem Eis
Indianerclub bezog. Aber was, wenn nicht? Lukas und die anderen haben Recht, denkt er. Ich bin eine Null, ein Versager. Ich weiß nicht einmal, wen mein bester Freund als Feind bezeichnet. Bald lassen sie dich in Ruhe. Jonny war nicht so vernagelt wie Tim, er hat sich wirklich für Tim interessiert. Was ist passiert am letzten Wochenende im Indianerclub? Ist Jonny doch nicht so schlau gewesen, ist er einem seiner Feinde zu nahe gekommen? Aber wer ist dieser Feind? Und was hat er mit Jonny gemacht?
Auf einmal weiß Tim, was er tun muss. Er schwingt sich aufs Rad und tritt in die Pedale, schnell und kräftig, damit er es sich nicht noch anders überlegen kann. Erst bei der leeren Fabrikhalle hält er an. Er weiß, dass Jonny manchmal dort hineingeschlichen ist, weil er ihn beobachtet hat. Heimlichhat er das getan. Heimlich und schuldbewusst, weil er seinem besten Freund nicht traut, sondern sich immer wieder vergewissern muss, dass der ihn nicht hintergeht. Aber er ist Jonny niemals in die Halle gefolgt. Weil er Angst hatte. Angst vor der düsteren Halle, vor allem aber davor, dass Jonny ihn entdecken könnte. Mamakind, Arschkriecher, Rinkerstinker, höhnt Lukas in Tims Kopf. Kann nichts und traut sich nichts. Macht sich gleich in die Hosen.
Tim versteckt sein Fahrrad in einem Gebüsch und läuft an der Seite der Halle entlang, so wie Jonny das getan hat. Graffiti und Tags sind an die Backsteinwände gesprayt, die Reste der eingeschlagenen Fensterscheiben und Oberlichter glitzern scharf wie Haifischzähne. Da ist eine rostige Eisentür, sie steht einen Spalt offen. Tim quetscht sich ins Innere der Halle. Halbdämmrig ist es hier, dreckig. Riesige Spulen liegen auf dem Boden, Reste von Eisenbahnschienen, undefinierbare Maschinenteile. Müll. Was hat Jonny hier getan, warum ist er hier herumgeschlichen? Tim durchquert die Halle. Hinten in der Ecke hat jemand eine Art Sitzecke gebaut. Drei alte Sofas, eine Kiste dient als Tisch, noch mehr Graffiti an der Wand. Ein voller Aschenbecher halb heruntergebrannte Grablichter aus rotem Plastik und leere Flaschen deuten darauf hin, dass Menschen hier zusammenkommen. Sogar einen Ghettoblaster und eine Wasserpfeife gibt es und einen Ofen aus rostigem Eisen.
Tims Herz hämmert in harten Schlägen. Kann es sein, dass er sich so in Jonny getäuscht hat? Hat Jonny sich hier mit einer Clique getroffen, von der Tim keine Ahnung hatte? Rinkerstinker, alter Stinker, was hast du denn gedacht? Dass Jonny dich mag und überallhin mitnimmt wie seinen Hund? Tränen brennen in Tims Augen, frustriert gibt er dem Ofen einen Tritt und heult auf, weil er nicht dran gedacht hat, dass er Sandalen trägt. Er lässt sich auf eines der durchgesessenen Sofas fallen und umklammert seinen Zeh. Heulsuse, Mamakind. Geschieht dir recht.
In der Halle ist es kühler als draußen, kühl und still. Allmählich lässt der Schmerz nach und Tim kann wieder besser denken. Was hat Jonny hier gemacht? Es ist einfach nichtvorstellbar, dass er hier auf dem Sofa saß und Wasserpfeife rauchte. Oder doch? Noch einmal lässt Tim seine Blicke durch die Halle schweifen, versucht, auf jedes Detail zu achten, wie ein echter Späher. Die Ofenklappe steht jetzt offen, das ist das Einzige, was sich verändert hat. Er kniet nieder, will sie schließen, weil ein guter Späher keine Spuren seiner Anwesenheit hinterlassen darf. Etwas liegt in dem Ofen, etwas, was ganz sicher nicht dorthin gehört, etwas, was er kennt. Tim streckt die Hand in den Ofen und holt es heraus. Jonnys Messer, ganz unverkennbar Jonnys Fahrtenmesser mit dem roten Lederband und den Perlen am Griff. Noch am Freitagnachmittag am See haben sie damit Tims Leberwurstbrote zerschnitten. Warum hat Jonny sein Messer in den Ofen gelegt? Wo ist der Lederschaft, in dem Jonny es am Gürtel trägt? Und vor allem, wann hat er es hierher gebracht, wenn er doch im Indianerlager war? Das alles ergibt keinen Sinn. Tim geht zu einem der halbblinden Fenster und hält das Messer ans Licht. Die Klinge ist fleckig. Etwas Rotbraunes klebt daran. Es sieht aus wie Blut.
»Die Blutspuren, die wir in dem mit der Baseballkappe markierten Gebüsch gefunden haben, stammen zum Teil von einem Hund, zum Teil von einem Menschen«, berichtet die Kriminaltechnikerin Karin, deren Nachname neuerdings Munzinger lautet, wie der ihres Kollegen Klaus.
»War es viel Blut?« Manni schaut von seinem Notizblock auf.
»Nicht viel. Und insgesamt haben wir mehr tierisches als menschliches Blut
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