Unter dem Eis
gebastelt hatten und die Martina seitdem nicht wegschmeißen durfte, sind verblichen und schmuddelig von unzähligen kleinen Fingerabdrücken. Sie nimmt Jonnys Taschenlampe und schaltet sie an. Etwas sticht in ihrer Brust, als sie bemerkt, dass der Lichtkegel gelblich geworden ist. Oder bildet sie sich das nur ein? Sie schirmt den Lichtstrahl mit der Hand ab. Schwächer oder nicht? Und selbst wenn – das kann doch nichts damit zu tun haben, wie es Jonny geht. »Hör auf, es hat nichts damit zu tun«, sagt sie laut und glaubt sich nicht. Hastig schaltet sie die Taschenlampe wieder aus.
Ein Auto hält vor ihrem Haus, der blonde Kommissar Korzilius steigt aus. Martinas Körper setzt sich in Bewegung und öffnet ihm die Tür, das Stechen in ihrer Brust wird stärker. Sie kann im Gesicht des Polizisten lesen, dass sie stinkt. Sie hätte auf Frank hören und duschen, frische Sachen anziehen sollen. Sie zieht den Wollschal enger um die Schultern, presst die Arme an den Leib. Frank schafft es, zu funktionieren, ruhig und sachlich zu bleiben, umsichtig, für die Kleinen da zu sein. Warum schafft er das? Und warum schafft er es wie gestern Abend sogar, Martina zu trösten, während sie ihn beschimpft?
»Können wir uns hinsetzen?«, fragt der Kommissar. »Ist Ihr Mann da?«
Sein Gesichtsausdruck, er weiß etwas. Sie droht zu fallen, ins Bodenlose, ins Schwarze. »Jonny, ist etwas mit … Sie haben …«
Der Kommissar packt sie am Arm. »Nein, wir haben Ihren Sohn nicht gefunden.« Er schiebt Martina Richtung Küche.
»Frank bringt die Kleinen zu seinen Eltern.« Ihre Zähne klappern jetzt, ihre Knie sind weich. Widerstandslos lässt sie sich von dem Kommissar auf die Eckbank dirigieren. Eröffnet den Kühlschrank, holt Orangensaft heraus, findet ein Glas. »Trinken Sie.«
Der Geruch ihrer Angst erfüllt den Raum. Der Kommissar setzt sich Martina gegenüber und wartet, bis sie nicht mehr so zittert.
»Der Dackel, Dr. D.«, sagt er dann. »Jonny hat ihn mitgebracht, als er zu Ihnen zog, richtig?«
Sie nickt.
»Ihr Mann, Frau Stadler. Es gibt eine Zeugenaussage, dass er darüber nicht sehr glücklich war. Stimmt das?«
Frank hat Dr. D. vom ersten Tag an gehasst. Unerträglich fand er es, dass der Dackel die Blumenbeete durchwühlte und auf dem Rasen sein Geschäft verrichtete, so dass kein Gras mehr wuchs. Innerlich hat er getobt, wenn Jonny seinen Hund mit an den Tisch brachte und auf dem Schoß hätschelte. Aber er hat sich zusammengerissen, ihr zuliebe und weil der Junge so traumatisiert war.
»Niemand war damals glücklich«, erklärt Martina mühsam. Wie Ertrinkende hatten sie sich gefühlt. Der Schmerz ist zu groß, meine Kinder kommen zu kurz, ich erreiche Jonny nicht und Frank – wenn es überhaupt noch so etwas wie Leidenschaft zwischen uns gibt, ist sie verschüttet. Und dann dieser Köter, der uns zwischen den Beinen rumwuselt mit seinem sprichwörtlichen Dackelblick, wenn er wieder auf Franks Rasen geschissen hat, und kein Ende in Sicht. So ist das damals gewesen, aber das kann sie diesem Mann mit dem glatten Gesicht nicht sagen, weil er es nicht verstehen wird, weil er den Schmerz nicht kennt.
»Natürlich«, sagt der Kommissar, als könne er ermessen, wie viel Unglück der Tod über eine Familie bringt. »Aber Ihr Mann mag Hunde nicht gern, richtig?«
»Er hat sich an Dr. D. gewöhnt. Warum wollen Sie das eigentlich wissen?«
»Es tut mir leid, Frau Stadler. Es sieht so aus, als ob jemand Jonnys Hund verletzt hat. Verstümmelt. Wir wissen noch nichts Genaues, aber wir haben im Königsforst ein Ohr gefunden – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist es ein Ohr Ihres Dackels.«
Wieder kommt die Dunkelheit. Irgendwo sagt eine heisere Stimme: »Das glaube ich nicht, das kann nicht sein.«
»Leider doch. Die Registriernummer im Hundepass stimmt, soweit das rekonstruierbar war, mit der Tätowierung im Ohr überein. Absolute Gewissheit bekommen wir, sobald ein paar Tests abgeschlossen sind.«
So viel Dunkelheit. Sie erträgt es nicht. Sie springt auf, verliert das Gleichgewicht, schafft es nicht mehr bis ins WC, taumelt zum Spülbecken und erbricht Orangensaft und Galle über die ungespülten Töpfe.
Augenblicklich ist der Kommissar hinter ihr und stützt sie, bis das Würgen nachlässt. Sie wischt den Mund mit einem Papiertuch ab, raus muss sie, raus. Wieder setzt ihr Körper sich in Bewegung, in den Flur, durchs Wohnzimmer auf die Terrasse, wo die Hitze sich unter der Markise
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