Unter dem Eis
ich meine Leute kenne. Wir kommen seit Jahren zusammen, wir …«
»Könnte Jonny selbst den Dackel verletzt haben?«
»Absichtlich? Jonny? Ausgeschlossen, nein, auf gar keinen Fall.«
»Mit wem in Ihrem Club ist er befreundet?«
»Die Jugendlichen sind oft für sich, fragen sie die. Aber sowie ich das sehe, ist Jonny eher ein Einzelgänger. Am liebsten ist er bei unseren Spielen Späher. Streift stundenlang im Wald rum und ist glücklich.«
»Ein Einzelgänger hat oft Feinde.«
»Nicht Jonny, nein.«
»Wie ist das Verhältnis zu seinem Stiefvater, Frank Stadler?«
»Gut. Natürlich haben die beiden hin und wieder Meinungsverschiedenheiten. Das liegt ja in der Natur der Sache, in diesem Alter. Die Pubertät, Sie wissen schon.« Petermann betrachtet Manni, als müsse er abschätzen, ob Manni selbst diesem hormongeschüttelten Zustand entwachsen ist.
»Jonny und sein Stiefvater haben also gestritten. Worüber?«
»Worüber schon, die üblichen Vater-Sohn-Geschichten. Wann Schlafenszeit ist. Hände waschen, Zähne putzen. Ob der Dackel beim Essen betteln darf oder nicht.«
»Und, darf er?«
»Frank ist der Ansicht, nein. Eine vernünftige Ansicht, wenn Sie mich fragen. Hunde sind nun einmal unhygienisch und haben bei Tisch nichts zu suchen.«
Interessant, denkt Manni, interessant. Man müsste feststellen, wo Hunde nach Frank Stadlers Ansicht noch nichts zu suchen haben. Und wie Jonny das gefallen hat. Gefällt, korrigiert er sich, Gegenwart. Noch ist es sehr gut möglich, dass der Junge lebt. Sein Handy beginnt zu vibrieren, KH Müller, verrät das Display. Manni macht eine entschuldigende Geste zu Petermann und nimmt das Gespräch an.
»Ja, Karl-Heinz?«
»Eine Ziffer ist weggefressen, bei einer bin ich nicht sicher, ob es eine Fünf oder Sechs ist, eine sieht aus wie eine Eins, könnte aber auch eine Sieben sein«, verkündet die Stimme des Rechtsmediziners. »Ich hab jetzt einen DNA-Test veranlasst, aber wenn du mich fragst, die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung ist sehr hoch, die Rasse kommt auch hin, geh also davon aus, dass das Ohr dem Dackel von Jonny Röbel gehört.«
»Danke, Karl-Heinz, Klasse. Ich komm später bei dir vorbei.«
Petermann hat Mannis Telefongespräch mit Boxerblick beobachtet. Manni starrt ihm einen Moment lang in die hellgrünen Augen, bevor er sein Gegenüber an seiner neusten Überlegung teilhaben lässt.
»Sie sagten, Frank Stadler fühlt sich zuweilen vom Hund seines Stiefsohns gestört.«
»Oh nein, das wollte ich so nicht sagen, da haben Sie mich falsch verstanden.«
»Wirklich?«
»Hören Sie, Frank hat Jonnys Hund nichts getan. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
Es ist Dienstag. Jetzt, um diese Zeit, müsste Jonny aus der Schule heimkommen. Dienstags hat er in den letzten beiden Stunden Sport, dann ist er besonders hungrig, deshalb gibt es dienstags immer Nudeln. Marlene und Leander haben schon gegessen, zwei kleine tapfere Soldaten, bemüht, Martina und Frank zu glauben, dass alles in Ordnung ist. Frank bringt sie jetzt zu seinen Eltern. Martina fühlt sich schlecht, weil sie das so erleichtert. Müsste sie ihre beiden verbliebenen Kinder nicht eigentlich wie eine Glucke bewachen? Aber ihr fehlt die Kraft dazu, und auch den Anruf bei ihren eigenen Eltern schiebt sie vor sich her. Der Sohn ihrer toten Schwester – wie soll sie den Eltern sagen, dass sie ihn nicht behütet hat? Wie sehr hat sie damals darum gekämpft, dass Jonny zu ihnen zieht. Sie muss ihre Eltern wirklich anrufen. Jonnys Bild ist in allen Zeitungen. Am Abend wollen die WDR-Lokalnachrichten einen Appell von ihr senden. Jonny, komm zurück, wir lieben dich. Wie hoffnungslos das ist.
Martina tritt ans Küchenfenster. Obwohl sie weiß, dass Jonnys Mountainbike in der Garage steht, hofft sie inständig, dass Jonny jede Sekunde angeradelt kommt, eine Hand am Lenker, die andere schiebt hastig seinen MP3-Player in die Hosentasche, damit Martina nicht merkt, dass er ihr Verbot ignoriert hat, sich beim Radfahren durch Musik ablenken zu lassen. Er lehnt das Rad in die Einfahrt, und Dr. D., dersowieso schon aufgeregt zur Haustür gerannt ist, lange bevor sie selbst Jonny sehen kann, fängt freudig an zu bellen, und Jonny wirft den Rucksack an die Garderobe, streichelt Dr. D. und sagt so etwas wie mmh, Nudeln, Tini, lecker, als wäre das eine Überraschung und alles ist gut.
Die Topfpflanzen auf der Fensterbank sind welk, die Papierküken, die die Kleinen zu Ostern im Kindergarten
Weitere Kostenlose Bücher