Unter dem Eis
sichergestellt.«
Also vielleicht doch kein Tatort, sondern nur ein weiteres Rätsel, denkt Manni. Aber wer vermag das schon zu sagen. Ohne Leiche. Ohne klarere Spurenlage. Erdrosseln, ersticken, vergiften – es gibt genug Möglichkeiten, zu töten, ohne Blut zu vergießen. Die Frage ist zunächst einmal, wer in diesem Wald außer dem Dackel geblutet hat.
»Bis wann …?«
»Morgen Nachmittag, spätestens übermorgen, wissen wir, ob das Blut von Jonny und seinem Hund stammt.«
Morgen oder übermorgen, na klar. Nichts geht zügig in der Vermisstensache Jonny Röbel. Manni streicht sich ein paar feuchte Haarsträhnen hinters Ohr. Karin setzt sich wieder und streckt die Beine aus. Der Tischventilator, den sie am Kopfende des Konferenzraums aufgestellt haben, pustet mit leisem Surren einen Schwall abgestandene warme Luft in ihre Gesichter, dann dreht er weiter. Manni greift in die Tüte Gummibärchen, die die Bruckner spendiert hat. Am liebsten mag er die gelben, das war schon immer so. Als er noch im Kindergarten war, hat seine Mutter ihm zum Geburtstag Schokoladenkuchen gebacken, mit Gummibärchen verziert. Manni hat geweint, als jemand anders das Kuchenstück mit dem gelben Bärchen bekam. Sein Vater hat ihm eine geknallt. Abhärten nannte er das. Fürs Leben lernen.
Petra Bruckner studiert den Plan vom Königsforst, den sie an die Wand gehängt haben. Indianerlager, Autobahnrastplatz, Schutzhütte und den Fundort von Jonnys Mütze haben sie mit gelbem Textmarker hervorgehoben. Die Bruckner pikt drei rote und vier blaue Fähnchen in die angrenzenden Flächen.
»Bislang hat sich niemand gemeldet, der Jonny in Begleitung gesehen hat. Rot markiert die Stellen, wo Zeugen Jonny und seinen Hund gesehen haben wollen. Blau heißt, dass sie gegen 17.30 Uhr wie unser Zeuge Hagen Petermann das Bellen gehört haben.«
»Direkt bei der Hütte hat niemand den Jungen gesehen?«
»Bis jetzt noch nicht. Aber es ist auffallend, dass die Zeugen, die das Bellen gehört haben wollen, alle relativ nah bei der Hütte waren.«
Manni stellt sich neben die Bruckner. »Dieses rote Fähnchen hier ist ziemlich nah am Autobahnrastplatz. Damit fällt es aus Jonnys Bewegungsraster.«
Petra Bruckner nickt. »Das ist unser Wackelkandidat. Ein älterer Herr. Er konnte nicht sicher sagen, ob das T-Shirt des Jungen, den er gesehen hat, rot war.«
»Vielleicht ist er farbenblind.«
Die Bruckner nickt nachdenklich. »Das ist eine Möglichkeit. Ich werde ihn fragen. Zeitlich käme es nämlich einigermaßen hin. Alle anderen Zeugen meinen, dass es nach 17 Uhr war, als sie Jonny sahen beziehungsweise den Hund hörten. Nur er hier«, sie tippt auf das einsame rote Fähnchen, »behauptet, er hat den Jungen gegen 16 Uhr gesehen.«
»Also wäre Jonny vom Indianercamp erst zum Rastplatz und dann zur Schutzhütte gelaufen.«
»Die Frage ist nur, warum? Und was ist dann passiert?«
»Jemand hat dem Hund ein Ohr abgetrennt. Mit einer Waffe, die wir bislang nicht gefunden haben. Und dann haben sich beide in Luft aufgelöst.«
Müde sehen sie sich an. Manni mopst die letzten gelben Bärchen aus der Tüte, während sie das weitere Vorgehen planen. Man muss Frank Stadler noch genauer überprüfen. Nachbarn befragen, die Kölschen Sioux noch mal rannehmen, vor allem die Jugendlichen. Sicherlich hat nicht nur Chefindianer Petermann bemerkt, dass Stadler den Dackel seines Stiefsohns nicht leiden konnte. Die Gefahr besteht darin, dass Stadler unschuldig ist und sie so nur noch mehr Unglück über die Familie Stadler bringen. Aber was bleibt ihnen anderes übrig? Ein einsamer Waldspaziergang ist nicht gerade ein solides Alibi für die Zeit, in der sein Stiefsohn verschwand. Vielleicht müssen sie Stadler härter rannehmen, ins Präsidium vorladen, U-Haft beantragen. Doch mit welchem Grund? Sie können ja noch nicht einmal sicher sein, dass Jonny tot ist. Dranbleiben, denkt Manni, mehr kann man nicht tun. Wenn Stadler Dreck am Stecken hat, wird er früher oder später einen Fehler machen.
Natürlich muss man außerdem hoffen, dass sich noch mehr Zeugen melden, dass irgendjemand den Jungen in Begleitung gesehen hat. Die Befragungen, die die Bruckner in der Schule des Jungen durchgeführt hat, sind bislang ebenfalls himmelschreiend ergebnislos. So als ob Jonny die Unterrichtsstunden in einem anderen Orbit als seine Mitschüler absolviert hätte, lesen sich die Aussagen aus dem Bertolt-Brecht-Gymnasium. Allseits respektiert, aber allein. Hochintelligent.
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