Unter dem Eis
staut. Der Kommissar bleibt ihr auf den Fersen.
»Bitte, Frau Stadler, ich weiß, das ist hart, aber Sie müssen uns helfen. Wer könnte das getan haben? Dr. D. ein Ohr abschneiden?«
Stumpf schüttelt Martina den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Mein Gott, das arme Tier. Und Jonny! Du lieber Gott, Dr. D. verstümmelt, das hält er nicht aus.«
Der Kommissar wartet, bis ihre Verzweiflung abebbt, dann beginnt er erneut mit seinen hässlichen Fragen. Über Jonnys Freunde. Über mögliche Feinde. Über Frank und Jonny. Über Frank und Dr. D.
»Suchen Sie ihn, retten Sie ihn!«, schreit sie schließlich. »Aber hören Sie auf, uns zu quälen. Wir sind Jonnys Familie, mein Gott, Familie heißt, dass man zusammensteht, auch wenn einem mal nicht alles gefällt. Wir haben Jonny nichts getan!«
Der Kommissar mustert sie. Nachdenklich. Abwägend.
»Hat Ihr Mann Ihnen inzwischen gesagt, wo er am Samstagnachmittag war?«
Martina starrt ihn an. Unfähig, etwas zu erwidern.
»Ich kann sehen, dass Sie Jonny lieben«, sagt der Kommissar schließlich. »Aber sind Sie sicher, dass Ihr Mann das Gleiche für Ihren Neffen empfindet wie Sie?«
»Verschwinden Sie, hauen Sie ab«, flüstert die fremde heisere Stimme. Martina wartet darauf, dass die Stimme noch mehr sagt. Natürlich liebt Frank Jonny so wie ich, zum Beispiel. Oder einfach nur: Selbstverständlich. Doch sosehr sie sich auch bemüht, die Worte lassen sich nicht auf ihre Lippen zwingen.
Hitzefrei. Die Schach-AG fällt heute Nachmittag aus. Tims Mutter brät im Liegestuhl in der Sonne, der weiße Strohhut mit den Seidenpapierblumen liegt auf ihrem Gesicht.
»Ich geh dann.«
»Viel Spaß, Timmy«, antwortet der Hut mit flacher, abwesender Stimme. Fragt nicht, wo gehst du hin, wann kommst du wieder, wie geht es dir. Seine Mutter meint das nicht böse, sie kann nur manchmal nicht anders, wenn sie ihre Stimmungen hat. Tim schiebt sein Fahrrad aus dem Schuppen. Manchmal hasst er es, wenn seine Mutter in ihrer eigenen Welt versinkt, aber genaugenommen ist es immer noch besser, als wenn sie ihn mit ihrer Fürsorge auf Schritt und Tritt verfolgt.
Er fährt zum Baggersee, kettet das Mountainbike an eine Birke und schleicht über den Trampelpfad zum Aussichtspunkt. Gegenüber liegt der sandige Steilpfad, den man runterrutschen muss, wenn man zum Strand kommen will. Unten ist es voll. Luftmatratzen, Handtücher, Kühlboxen, jede Menge braungebrannte Menschen. Kinderjauchzer und Musikfetzen wehen über das türkisgrüne Wasser zu ihm herauf, ein Hauch von Sonnenmilch. Tim kniet sich hinter einen Busch und hebt das Fernglas vor die Augen. Ein Späher muss unsichtbar sein, hat Jonny gesagt. Ein Späher ist jemand, der da ist und doch nicht da. Irgendwann weiß er dann alles, was er über seine Feinde wissen muss, oft sogar mehr als sie selbst. Und dann kann er handeln.
Langsam und konzentriert betrachtet Tim Gesichter und Körper. Ein paar Mädchen aus seiner Klasse in neonbunten Bikinis. Cousine Ivonne. Sie steckt sich gerade eine Zigarette an – wenn das ihre Mutter wüsste. Und da, etwas abseits imWasser, stehen Viktor und Ralle, Bierdosen in den Händen, diskutierend. Oder streitend? Tim beobachtet sie eine Weile, schade, dass er nicht von den Lippen lesen kann. Er lässt das Fernglas sinken. Warum sind die überhaupt hier und nicht im Schwimmbad wie sonst? Ohne Jonny hat er eigentlich sowieso keine rechte Lust zum Schwimmen gehabt, aber jetzt ist es ganz und gar unmöglich geworden, nach unten zu rutschen. Und im Schwimmbad ist bestimmt Lukas mit seiner Clique.
Tim schließt sein Fahrrad auf und radelt eine Weile ziellos umher. Er ist allein, so war es schon immer. Bald lassen sie dich in Ruhe, hat Jonny letzten Freitag versprochen. Wie hatte er das gemeint? Das hatte er nicht verraten wollen und jetzt wird Tim es vielleicht nie erfahren. Tränen schießen ihm in die Augen, er zwinkert sie weg. Jonny und seine Geheimnisse. Die Geheimnisse von anderen, die eigenen Geheimnisse. Jonny, der Späher.
An einem Kiosk kauft Tim ein Eis. Er setzt sich auf eine Bank und löst die Papierfolie. Das Eis ist klebrig süß und kalt an seinen Zähnen, es schmeckt ihm nicht, und er soll nicht zwischendurch naschen, weil das dick macht; er isst es trotzdem auf. Kein Dr. D. mehr da, der ihm dabei hilft. Wer sind die Feinde, die Jonny beobachtet hat? Das hat er nicht gesagt, und Tim hat einfach geglaubt, dass sich dieses ganze Gerede von Freund und Feind auf den
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