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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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in einem Astrid- Lindgren-Bilderbuch. Sie umfasst das Seil, schaukelt sacht.
    Sind Sie sicher, dass Ihr Mann Jonny so liebt wie Sie? – Was, wenn nicht? Jetzt, endlich, lässt sie auch diese zweite Frage zu. Wie oft hat sie solche Szenarien mit ihren Kolleginnen im Hort erörtert, wenn sie den Verdacht hatten, ein Vater oder Stiefvater missbrauche oder misshandle sein Kind, während die dazugehörige Mutter die Augen verschloss. Sicher, ein bisschen konnten sie das Wegsehen verstehen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil der Verdacht, wenn er sich denn bewahrheiten würde, in ein noch bodenloseres Loch führt, als ein Mensch, der liebt, ertragen kann. Man muss seine Kinder schützen. Mutterliebe sollte doch wohl stärker sein als die Liebe zu einem Mann, als Begehren und die eigene Bequemlichkeit, hatten sie solche Diskussionen ein ums andere Mal beendet und gar nicht gemerkt, wie selbstgerecht, wie überheblich, wie blind ihr Urteil war, denn natürlich ist nichts jemals so eindeutig und einfach, sobald es einen selbst betrifft.
    Martina muss nicht in ihren Unterlagen und all den Infoheften von Jugendamt, Kinderschutzbund, Zartbitter, Weißem Ring nachschlagen, um die Wahrheit zu erkennen: dass in vielen Fällen jemand von außen die Anzeichen zuerst erkennt, dass sich dieser Verdacht fast immer bestätigt und dass männliche Verwandte und Freunde der Familie eine nicht unerhebliche Gefahr für die ihnen anvertrauten Kinder sind. Ihr Mund ist trocken, sie beginnt wieder zu frieren. Jonny war in den Tagen – oder waren es Wochen? – vor seinem Verschwinden bedrückt gewesen, stiller als sonst. Wieso hat sie nicht darauf bestanden, dass er sich ihr anvertraut? Er wird schon kommen, wenn er will, so war es noch immer, hat sie sich gesagt. Sie merkt, wie sie zu zittern beginnt. Hätte ich mich genauso verhalten, wenn Jonny mein leibliches Kind wäre? Wovor verschließe ich die Augen? Und wer ist Frank, der Mann, den ich seit elf Jahren zu lieben glaube? Hat auch er sich verändertvor Jonnys Verschwinden? Warum sagt er nicht, wo er war, als Jonny verschwand? Und warum hat er mich nicht wenigstens gleich angerufen, als er den ersten Verdacht hegte? Weil er meinen Theaterworkshop nicht stören wollte, auf den ich mich so lange gefreut hatte, hat er gesagt. Lächerlich.
    Martina versucht sich vorzustellen, wie Frank den Rauhaardackel tritt, wie er ihn quält, ihm ein Ohr abschneidet, ihn vielleicht sogar tötet – ein später Racheakt für seinen zerstörten Rasen. Sie versucht sich vorzustellen, dass Frank Jonny quält, vergewaltigt, verschleppt, tötet. Es gelingt ihr nicht, und die Erkenntnis, dass sie sich tatsächlich bemüht, diese Bilder heraufzubeschwören, jagt ihr einen weiteren Kälteschauer durch den Körper. Was passiert mit uns, was ist aus uns geworden? Wie tief bin ich gesunken, dass ich der Liebesfähigkeit meines Mannes misstraue und ihn sogar eines Mordes verdächtige?
    »Mama, wo bist du, wir sind wieder da-ha!« Marlene und Leander rennen in den Garten. Schwerfällig wie eine alte Frau löst Martina sich von der Schaukel.
    »Ich bin im Garten, kommt her, meine Motten!« Ihre Stimme klingt viel zu hoch, sie kann es nicht ändern. Sie kniet sich ins Gras, breitet die Arme aus und zwingt sich zu einem Lächeln.

    Sein Vater liegt jetzt in einem Einzelzimmer, eine geschrumpfte Silhouette unter sterilen Laken, überragt von einem Ständer mit Plastikbeuteln. Aus einem der Beutel tropft ein Medikament in einen durchsichtigen Plastikschlauch, der unter der Bettdecke verschwindet, ein anderer ist halb gefüllt mit einer gelblichen Flüssigkeit – Urin. Das konstante Piepsen und Sirren der Überwachungsmaschinen ist lauter als der Atem des Kranken – falls er überhaupt noch atmet. Zögernd zieht Manni die Tür hinter sich zu. Es ist stickig und warm, der Vorhang vor dem Fenster dämpft das Abendlicht zum Halbdunkel. Sein Vater liegt reglos, die Augen geschlossen, ein weiterer Schlauch aus seiner Nase ist offenbar mit einer Maschine verbunden, die Sauerstoff in seine Lungen pumpt. Manni geht zum Fußende des Bettes, sein Fuß stößt an eine der Rollen, so dass das Bett an die Wand knallt. Sein Vater rührt sich nicht. In der Cafeteria des Krankenhauses hat Manni eine Schachtel Weinbrandpralinen und eine Flasche Hohes C gekauft, jetzt wird ihm bewusst, wie sinnlos das war.
    Er stellt seine Mitbringsel trotzdem auf den Tisch vor dem Fenster und widersteht der Versuchung, den Vorhang

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