Unter dem Eis
Sogar eine Klasse übersprungen hat er. Dieser Junge aus der Schach-AG,Tim oder Tom, denkt Manni. Mehrere Lehrer und Zeugen haben ihn als Jonnys besten Freund bezeichnet, und er war wirklich eindeutig erschüttert, dass Jonny verschwunden ist. Aber wieso hat er dann nichts ausgesagt, was uns weiterhilft? Ich muss noch mal mit diesem Jungen reden. Morgen, denkt Manni, morgen. Heute muss ich noch in die Rechtsmedizin und ins Krankenhaus.
Die Sauerstoffreste, die der Ventilator im Besprechungsraum verquirlt, sind jetzt so gering, dass ihnen die Augen zuzufallen drohen. Die Nacht war zu kurz, denkt Manni. Der Tag ist zu schnell vergangen und erreicht haben wir genaugenommen nichts. So wird das nichts mit meiner Rückkehr ins KK 11 . Er greift zur Fernbedienung und schaltet die WDR-Lokalnachrichten an. Es dauert siebeneinhalb Minuten, bis die Moderatorin ihr Lächeln einstellt und mit ernster Stimme um besondere Aufmerksamkeit für die Suche nach einem vermissten Jungen bittet. Dann kommt Martina Stadler ins Bild. Sie muss geduscht haben, nachdem Manni sich von ihr verabschiedet hat. Ihre rotbraunen Haare sind zu einem schimmernden, mütterlich korrekten Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt endlich etwas anderes als das verschwitzte grüne Trägerkleid, nämlich eine gebügelte weiße Bluse. Prima zurechtgeschminkt ist sie außerdem, nur die verheulten Augen lassen sich nicht retuschieren, aber das verleiht dem Appell natürlich genau jenen Touch dramatischer Authentizität, den ein durch zu viele schlechte Fernsehkrimis aufgeputschtes Publikum verlangt.
Martina Stadler krampft die Hände ineinander und beginnt zu sprechen. Ihre Stimme ist leise und zittert. »Helfen Sie uns!«, beendet sie ihren Appell. »Jonny, wenn du mich hörst, bitte melde dich. Komm zu uns zurück, wir lieben dich.« Sie versucht, noch etwas zu sagen, aber das wird von Tränen erstickt und ein harter Schnitt bringt wieder das Nachrichtenstudio mit der immer noch ernst blickenden Moderatorin ins Bild. In ihrem Rücken ist ein Foto von Jonny und Dr. D. zu sehen. Die Moderatorin verliest die polizeiliche Beschreibung, auch die Registriernummer aus dem Hundepass wird eingeblendet. »Es sieht so aus, als habe jemand Jonnys Rauhaardackel einOhr abgetrennt, möglicherweise um eine Identifizierung des Tiers zu verhindern«, erklärt die Moderatorin. Donnerwetter, denkt Manni, das hat unsere Pressabteilung aber gut hingekriegt, das klingt ja mal richtig vernünftig. Wenn jetzt noch ein paar brauchbare Hinweise eingehen, kommen wir endlich einen Schritt weiter.
»Du warst gut.« Frank lenkt den Wagen über die Rheinuferstraße zur Zoobrücke. »Bestimmt meldet sich jemand, der Jonny und Dr. D. gesehen hat, und alles kommt wieder in Ordnung.« Seine rechte Hand greift nach Martinas linker.
»Nicht, ist zu warm.« Martina entzieht ihm ihre Hand. Nichts wird wieder gut, im ganzen Körper kann sie das spüren, und daran kann auch ihr Appell im TV nichts ändern. Sie dreht den Kopf zur Seite und schaut aus dem Fenster. Sommerlich bekleidete Menschen flanieren unter Platanen am Fluss entlang, sie hasst sie für ihre Fröhlichkeit. Dann denkt sie daran, wie leicht dieser so genannte Touristenmörder wieder zuschlagen kann, und auch wenn das gemein und niederträchtig ist, tröstet sie dieser Gedanke mehr als Franks Worte. Du warst gut. Als ob sie für eine Theaterrolle vorgesprochen hätte, hat er das gesagt. Als ob es darum ginge, Martina zu beurteilen. Wie abgrundtief geschmacklos das ist.
Sind Sie sicher, dass Ihr Mann Jonny so liebt wie Sie? Immer noch hallt diese Frage des blonden Kommissars Korzilius in ihrem Kopf. Sie hat versucht, dieses Echo zu überhören, hat die voll gekotzten Töpfe gespült, geduscht und endlich ihre Eltern angerufen, nachdem der Kommissar gegangen ist. Sie hat all diese leeren, sinnlosen Phrasen in das stumme Entsetzen am anderen Ende der Leitung gesprochen. Und dann kam Frank, und sie haben schweigend nebeneinander gesessen und gewartet, dass die Zeit vergeht, damit er sie zum WDR fahren kann. Und die ganze Zeit hat sie versucht, diese schreckliche Frage in ihrem Kopf nicht zu hören.
Aber jetzt, nachdem Frank sie vor dem Haus abgesetzt hat und gleich weiterfährt, um Lene und Leander abzuholen, jetztwird diese Frage so laut, dass sie sie nicht länger ignorieren kann. Martina geht über den Rasen ans hintere Ende des Gartens, setzt sich rittlings auf die Schaukel, die an den Ästen des alten Walnussbaums hängt, unschuldig wie
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