Unter dem Georgskreuz
gedacht hatte, wie sie es alle besprochen hatten, ohne mehr zu wissen, als was Kapitän Lloyd beobachtet und er selber daraus gefolgert hatte: Warum führte der Gegner so viele Boote zusätzlich mit? Tyacke grinste herzhaft.
Sklavenhändler – wie damals.
Männer pullten schon an den Brassen, lagen fast auf den Planken, als sie die großen Rahen herumholten. Muskeln und Knochen kämpften mit Wind und Ruder.
Tyacke sah Daubeny noch ein paar Männer an die Brassen schicken. Doch selbst mit den Freiwilligen aus Neuschottland waren sie immer noch unterbemannt, ein Erbe jenes blutigen Gefechts zwischen der
Indomitable
und Beers
Unity
. Tyacke rückte seinen Hut gerade. Es beunruhigte ihn, daß das schon wieder ein Jahr her war.
Bolitho trat neben ihn an die Reling. »Der Feind hat mehr Leute und die besseren Kanonen und wird beides einsetzen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, als spreche er über das Wetter. »Aber er steht vor einer Leeküste – und das ist ihm klar. Als Seemann weiß ich, daß man die Schiffsführer wegen der Landeplätze nicht konsultiert hat.« Er lachte und fügte hinzu. »Also werden wir unseren Vorteil daraus ziehen!«
Tyacke lehnte sich vor über den Kompaß, und der Rudergänger meldete: »Nordost bei Nord, Sir. Voll und bei!« Tyacke sah nach oben und prüfte jedes Segel ganz genau und kritisch, als das Schiff sich langsam auf Steuerbordbug überlehnte. Dann legte er die Hände wie eine Trompete vor den Mund und rief: »Fockbrassen dichter holen, Mr. Protheroe. Und jetzt belegen.« Und wie zu sich selbst fügte er hinzu: »Der ist ja fast noch ein Junge, verdammt noch mal.«
Doch Bolitho hatte ihn gehört. »Das sind wir doch alle, James. Junge Löwen.«
»
Chivalrous
in Sicht, Sir. An Backbord voraus.«
Nur eine Sammlung weißer Segel hoch vor stumpfen Wolken. Wie war er sich so sicher? Aber Tyacke zweifelte nicht an seinem Ausguck. Er wußte es eben, und nur darauf kam es an. Auch die anderen würden bald in Sicht sein. Er sah, wie das erste Morgenlicht oben über die Wanten und die zitternden Bramsegel strich. Auch der Feind würde sie sehen.
Der Wind war noch immer stark genug – für den Augenblick jedenfalls. Land würde man erst sehen können, wenn die Sonne hoch genug stand, und selbst dann… Doch fühlen konnte man es längst. Wie eine gewaltige Barriere dehnte es sich ihnen entgegen, um den Eingang der Bucht von allen Schiffen freizuhalten, egal welche Flaggen sie führten.
Tyacke strich sich über das Gesicht und bemerkte nicht, daß Bolitho ihn beobachtete. Hier draußen war es so ganz anders, hier sah man und wurde man gesehen. Nichts erinnerte hier an die erstickende Enge des unteren Kanonendecks an jenem Tag vor Alexandrien, als er fast gestorben wäre und sich hinterher wünschte, er wäre es.
Er dachte an den Brief in seinem Tresor und an den, den er als Antwort verfaßt hatte. Warum hatte er überhaupt geantwortet? Nach all dem Schmerz und all der Verzweiflung, der brutalen Erkenntnis, daß das einzige Wesen, das ihm je etwas bedeutet hatte, ihn zurückgewiesen hatte – warum eine Antwort? Es wunderte ihn, daß sie ihm überhaupt geschrieben hatte. Er erinnerte sich an das Lazarett in Haslar in Hampshire, das voll belegt war mit Offizieren, Überlebenden aus dieser oder jener Schlacht. Jeder, der dort arbeitete, gab vor, ganz normal, ganz ruhig, ganz ungerührt zu sein von all dem geballten Elend. Ihn hatte das fast verrückt gemacht. Damals sah er sie zum letzten Mal. Sie hatte ihn im Lazarett besucht, und ihm war heute klar, daß sie vieles von dem, was sie sehen mußte, entsetzt hatte. Hoffnungsvolle, ängstliche Gesichter von Krüppeln, Verbrannten, Amputierten und Erblindeten. Das mußte ihr wie ein Alptraum erschienen sein. Aber alles, was er empfunden hatte, war Mitleid. Mitleid mit sich selber.
Sie war seine einzige Hoffnung gewesen, alles, an das er sich nach der Schlacht klammern konnte, als er auf der alten Majestic so schwer verwundet worden war. Alt, dachte er verbittert. Sie war ein fast neues Schiff gewesen.
Jetzt legte er die Hand auf die Reling, spürte die Risse und Narben im Holz und merkte nicht, wie besorgt Bolitho um ihn war. Nicht wie diese alte Dame. Ihr Kommandant war vor Alexandrien gefallen, und der Erste Offizier hatte das Kommando übernommen und weitergekämpft. Ein junger Mann. Wieder fuhr er sich über das Gesicht. Wie Daubeny.
Auch sie war so jung gewesen… Er hätte ihren Namen fast laut genannt.
Marion
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