Unter dem Georgskreuz
Flaggoffizier bei Sir Richard Bolitho anbieten. Er hatte eine Ablehnung erwartet, sobald Bolitho mehr über ihn erfahren hatte. Doch es kam alles anders. Nie würde er den Tag in Falmouth vergessen, in dem alten Haus, das ihm mittlerweile so vertraut war. Nie vergessen würde er ihre Güte, ihr Vertrauen in ihn und schließlich ihre Freundschaft, die alle Zweifel und Verletzungen der Vergangenheit heilte. Er dachte nie weiter als bis zur nächsten Fahrt, zur nächsten Aufgabe, selbst wenn sie ihn wieder vor die Mündungen feindlicher Kanonen führte. Und jetzt dies! Es war wie ein Schock. Er hatte sich etwas vorgemacht. Welche Chance hätte er gehabt? Eine verheiratete Frau, die Frau seines Kommandanten! Das hieß soviel wie sich eine Pistole an die Stirn setzen.
War sie immer noch so schön? Sie war mindestens zwei Jahre älter als er. Sie war so lebendig, so lebhaft gewesen. Nach der Schande durch das Kriegsgericht an die alte
Canopus
wahrscheinlich bis ans Ende seiner Dienstzeit gebunden, war sie ihm wie ein heller Stern erschienen: Und er war nicht der einzige Offizier, der von ihr gefangen war. Er schritt schneller aus und blieb stehen, als jemand sagte: »Danke, Sir!«
Es waren zwei ehemalige Soldaten, die noch Reste ihrer alten roten Uniformröcke trugen. Einer, der offensichtlich blind war, hielt den Kopf schräg, als versuche er sich vorzustellen, was da vor ihm geschah. Der andere hatte nur einen Arm und hielt einen Kanten Brot. Den hatte ihm offenbar ein Küchenjunge aus dem nahen Cafehaus gegeben. Wahrscheinlich hatte jemand das Brot auf seinem Teller liegenlassen.
Der Blinde fragte: »Was ist, Ted?«
Der andere antwortete: »Ein Stück Brot. Ist alles in Ordnung. Wir haben vielleicht mal Glück!«
Avery konnte seine Abscheu nicht unterdrücken. Eigentlich hätte er sich an solche Bilder längst gewöhnt haben müssen, aber es gelang ihm nie. Er war einst mit einem anderen Leutnant hart aneinandergeraten, als der ihn wegen seiner Empfindlichkeit anging.
Scharf rief er: »Ihr da!« Er merkte selber, wie Ärger und Trauer seinen Ton ungewöhnlich scharf gemacht hatten. Der Einarmige duckte sich sogar, stellte sich aber schützend vor seinen Kameraden.
»Es tut mir leid!« sagte Avery. Er mußte plötzlich an Adam Bolitho denken, der seinen Ehrensäbel verkauft hatte. »Nimm das!« Er legte ein paar Münzen in die schmuddelige Hand. »Eßt mal was Warmes!«
Er drehte sich um und ärgerte sich, daß solche Bilder ihn immer noch bewegen und erregen konnten.
Der Blinde fragte hinter ihm: »Wer war das denn, Ted?« Die Antwort war bei all dem Lärm der Räder und Pferdegeschirre kaum zu vernehmen: »Ein Herr, ein wirklicher Gentleman!«
Wie viele solcher armen Hunde gab es? Wie viele würde es noch geben? Sie waren vielleicht Soldaten eines Linienregiments, vielleicht sogar zwei von Wellingtons Männern. Schulter an Schulter hatten sie französischer Artillerie und Kavallerie Trotz geboten, lebten von Schlacht zu Schlacht, bis sich eines Tages das Glück gegen sie gewandt hatte.
Um ihn herum ahnte niemand etwas davon. Und keiner würde glauben, daß sein Admiral genauso wie er selber zutiefst bewegt war bei dem Anblick solcher erbarmungswürdigen Kreaturen. Der Preis des Krieges war hoch. Es war wie der Augenblick in der Kajüte auf der
Indomitable
, als Adams Schiff verloren war und ein einziger Überlebender durch die Brigg
Woodpecker
aus der See gerettet wurde. Gegen alle Befehle war sie zum Ort des Gefechts zurückgesegelt. Der Überlebende war der Schiffsjunge. Avery hatte zugesehen, wie Bolitho mit Hingabe den Jungen ins Leben zurückholte und dabei zu erfahren suchte, was mit Adam geschehen war.
Avery hatte einst geglaubt, seine eigenen Leiden würden ihn dem Schicksal anderer gegenüber gefühllos machen. Bolitho hatte ihn eines Besseren belehrt.
Irgendwo schlug eine Glocke. St. James, Piccadilly, dachte er. Er war vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken. Er sah sich um, doch die beiden Rotröcke waren verschwunden. Wie Geister, die für kurze Zeit ein vergessenes Schlachtfeld hatten verlassen dürfen.
»Hallo, Mister Avery! Sie sind es ja wirklich!«
Er starrte sie an, wie sie da im Eingang zu einer Parfümerie stand und eine hübsch eingepackte Schachtel in den Armen hielt.
Die Straße schien ihm plötzlich gänzlich leer.
Er zögerte, nahm den Hut ab, sah ihren Blick über sein Gesicht gleiten und dachte bitter, daß sie ohne Zweifel die grauen Streifen in seinem Haar entdecken würde.
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