Unter dem Georgskreuz
Diesen Augenblick hatte er schon oft geträumt. Sarkastisch und mit Verachtung wollte er sie so bestrafen, daß sie es nie vergessen würde.
Eine Hand steckte in einem Pelzmuff, das Paket drohte aus der anderen zu fallen. »Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte er abrupt und nahm ihr das Paket ab. Es war schwer, doch das fiel ihm kaum auf. »Haben Sie jemanden, der Ihnen das trägt?«
Sie sah ihn weiter mit großen Augen an. »Ich habe gesehen, was Sie für die beiden armen Teufel da getan haben. Sie waren sehr gütig.« Ihr Blick blieb auf der neuen Epaulette haften. »Sie sind befördert worden, wie ich sehe!«
»Ich befürchte, nein.« Sie war unverändert. Unter ihrer hübschen Haube trug sie ihr Haar wahrscheinlich kürzer, so wie die Mode es heute diktierte. Doch ihre Augen waren, wie er sie erinnerte: blau, sehr blau.
Sie beantwortete seine Frage: »Mein Kutscher kommt gleich!« Sie schien vorsichtiger, fast unsicher.
Avery meinte: »Ich dachte, ich hätte Sie eben schon gesehen. Wahrscheinlich eine Luftspiegelung. Ich hörte, Sie haben Ihren Mann verloren.« Ein Augenblick des Triumphs, doch er verging ohne Wirkung.
»Im letzten Jahr…«
»In der
Gazette
habe ich nichts davon gelesen. Aber ich war ja auch kaum in England.« Er merkte, wie kurz angebunden, ja unhöflich er klang, doch er konnte nichts dagegen tun.
»Er fiel in keiner Schlacht!« sagte sie. »Seine Gesundheit war schon lange sehr angeschlagen. Und was hört man von Ihnen? Sind Sie verheiratet?«
»Nein«, sagte er.
Sie biß sich auf die Lippen. Auch diese kleine Angewohnheit zu sehen, tat ihm weh. »Ich meine irgendwo gelesen zu haben, daß Sie als Offizier bei Admiral Sir Richard Bolitho sind.« Als er schwieg, fuhr sie fort: »Das muß wirklich aufregend sein. Ich bin ihm nie begegnet.«
Ein winziges Zögern. »Und die berühmte Lady Catherine Somervell habe ich auch nie getroffen. Was ich sehr bedaure!«
Avery hörte hinter sich Räder. Er ahnte trotz des dichten Verkehrs, daß es ihre Kutsche war mit dem passenden Blau zu ihrem Mantel.
Sie fragte direkt: »Sie wohnen in der Stadt?«
»Ich bin in Chelsea abgestiegen, Mylady. Wenn ich meine Geschäfte hier in London erledigt habe, werde ich in den Westen aufbrechen.«
Auf ihren Wangen blühten zwei rote Flecken, gewiß keine künstlichen. »So formell haben Sie mich nicht immer angesprochen. Haben Sie das vergessen?«
Er hörte die Kutsche langsamer werden. Bald wäre alles vorüber, der unmögliche Traum würde ihm nicht mehr weh tun. »Ich liebte Sie damals. Sie wußten das doch sicher!«
Stiefel knallten auf dem Pflaster. »Nur das eine, Mylady?«
Sie nickte und sah interessiert zu, wie der Lakai Avery das Päckchen abnahm, bemerkte seinen Blick, seine braunen Augen, an die sie sich immer erinnert hatte.
Sie sagte: »Ich bewohne wieder mein Haus in London. Wir haben lange in Bath gelebt. Aber es ist hier nicht mehr so wie früher!«
Der Lakai ließ den Tritt der Kutsche herunter. Er würdigte Avery keines Blickes.
Sie legte eine Hand auf die Kutschtür, eine kleine, wohlgeformte, feste Hand.
»Ich wohne nicht weit von hier«, sagte sie. »Ich bin gern mittendrin.« Sie sah auf zu ihm, suchte etwas in seinem Gesicht. »Wollen Sie bei mir Tee trinken? Morgen vielleicht? Nach all den Jahren…«
Er sah sie an, erinnerte sich, als er sie in den Armen gehalten, sie geküßt hatte.
»Ich glaube, das wäre nicht sehr klug, Mylady. Es gibt schon genug Gerüchte und Geschwätz in dieser Stadt. Ich möchte Sie nicht wieder behelligen.«
Sie saß jetzt in der Kutsche und ließ das Fenster hinunter. Der Lakai wartete unbewegten Gesichts darauf, neben den Kutscher auf den Bock zu steigen.
Sie legte ihm einen Augenblick die Hand auf den Arm. Er war überrascht von ihrer offenkundigen Bewegtheit.
»Kommen Sie wirklich!« Sie schob ihm eine kleine Karte in die Hand. Sie blickte kurz zu dem Lakaien und wisperte dann: »Was Sie eben gesagt haben – stimmt das wirklich?«
Er lächelte nicht. »Für Sie wäre ich gestorben!«
Sie schaute noch zu ihm zurück, während die dunkelblaue Kutsche davonrollte.
Er knallte sich den Hut auf den Kopf und sagte laut: »Und ich würde es immer noch, verdammt noch mal!« Dann verflog sein Ärger, und sanft fügte er hinzu: »Susanna.«
Yovell, Bolithos pummliger Sekretär, wartete geduldig neben dem Schreibtisch in der Bibliothek und hielt dabei seine füllige Kehrseite dem Feuer zugewandt. Er, der auch auf See Bolithos Leben teilte, wußte
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