Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
Eine spröde Diva, eine geheimnisumwitterte Künstlerin, eine exzentrische Schriftstellerin, die sich in keiner Schlange hinten anstellt, auf der Straße den Blick gesenkt hält, um nicht angesprochen zu werden, und über jeden roten Teppich schreitet, als sei er nur für sie verlegt worden.
Ich bin leider ganz ich selbst geblieben.
Ich grüße mittlerweile auf der Straße sicherheitshalber mir völlig fremde Menschen, bloß, um nicht als arrogant zu gelten. Vor der «Bar Tausend» in Berlin stelle ich mich in die Schlange – um dann am Türsteher zu scheitern. Und auf roten Teppichen sehe ich im Blitzlichtgewitter nach wie vor genauso aus, wie ich eigentlich nicht aussehen möchte, nämlich: «natürlich».
24. November
Unser Kind hat einen Arbeitstitel!
Es geschah zu später Stunde. Mona saß in unserer Küche und hatte den Alkohol, den ich nicht trinken durfte, für mich gleich mitkonsumiert.
In bester Stimmung hob sie irgendwann erheitert ihr Glas und rief meinem Mann und mir so laut zu, als säßen wir nicht auf der anderen Seite des Tisches, sondern auf der anderen Seite des Kontinents: «Ich finde, ihr solltet gefälligst was für die deutsch-jüdische Aussöhnung tun und euren Sohn Chaim Schlomo nennen!»
Das fanden wir alle lustig, auch ich, obschon ich ja gar nichts getrunken hatte.
Heute Morgen sagte mein Mann, als ich spärlich bekleidet in die Küche schlurfte: «Mittlerweile kommt ja dein Bauch zuerst zur Tür rein.»
Und dann, als er sich lange genug über seinen durchaus diskutablen Scherz gefreut hatte, fügte er noch hinzu: «Wie geht es heute unserem Schlomo?»
25. November
Ich finde, wenn man schwanger ist, sollte man nicht nur Rohmilchkäse, rotes Fleisch, Drogen, Springreiten und das Wühlen in frischem Katzenkot vermeiden, sondern auch das Internet.
Wehe, du hast eine winzige Beschwerde, ein leichtes Ziepen, ein minimales Wehwehchen. Nach nur fünf Minuten Recherche im Internet hältst du es quasi für ausgeschlossen, dass du oder dein Baby gesund sein könnte. Nach weiteren fünf Minuten bist du bereits auf dem Weg zum Frauenarzt, weil du den Eindruck gewonnen hast, eine Schwangerschaft sei eigentlich prinzipiell weder für die Mutter noch für das zu gebärende Kind zu überleben.
Das weltweite Netz macht mich fertig. Es bombardiert mich mit Informationen, die ich nicht haben will, aber dennoch suche. Es ist wie ein zerstörerischer Sog, der mich hineinzieht in all die herzzerreißenden Geschichten von Fehlgeburten, von Totgeburten, von zerstörtem Glück. Eben las ich den Bericht über ein Baby, das zum Sterben auf die Welt kam. Es durfte nur ein paar Minuten leben, gerade lang genug, damit seine Eltern es einmal in den Arm nehmen konnten.
Ich drehe fast durch, wenn ich so etwas lese. Vor Mitleid. Und vor Angst. Ich fühle mich, als hätte ich keine Haut mehr, als dringe alles ungeschützt ins rohe Fleisch.
«Normal», sagt mein Frauenarzt. «Das sind die Hormone.»
Gestern habe ich die «Bild»-Zeitung abbestellt, die wir seit einiger Zeit abonniert hatten. Auf dem Titel zeigte eine Frau das Foto ihres vierjährigen Sohnes. Der war am Tag zuvor vor dem Hamburger Hauptbahnhof überfahren worden. Er starb noch auf der Straße, die Hand in der seiner Mutter.
Mein Mitgefühl ist grenzenlos. Aber brauche ich diese Information? Ich weiß doch, dass Kinder im Straßenverkehr ums Leben kommen. Jeden Tag und überall. Mehr braucht man nicht zu wissen. Fotos des blonden Jungen, des Unfallwagens, der Rettungskräfte, der Blutflecken, tun niemandem etwas Gutes.
Trotzdem habe ich online alles über den Unfall nachgelesen. Und ja, ich war versucht, auf den Link «Fotogalerien zum Thema – Die schlimmsten Unfälle mit Kindern in den letzten Jahren» zu drücken.
Es ist schrecklich: Ich bin so gewöhnlich, so leicht zu haben, so manipulierbar durch solchen Dreck. Diese Fotos rauben mir den Schlaf und das Urvertrauen in das Leben und in ein wohlwollendes Schicksal.
Schwangerschaft und Boulevard, das verträgt sich nicht, und ich will diese seelenvergiftende Zeitung, der ich so schlecht widerstehen kann, nie wieder auf meinem Küchentisch liegen sehen.
Und jetzt gehe ich ins Bett mit einer Lektüre, die mir nichts antut. Ich habe einen ganzen Stapel freundlicher Bücher auf meinem Nachttisch liegen.
Bücher, in die ich mich zurückziehen kann, wenn mir die Welt zu bedrohlich und meine Haut zu dünn vorkommt.
Immer wieder, ich gebe es hier unerschrocken zu, verstecke ich mich in
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