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Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Titel: Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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«September» von Rosamunde Pilcher und in den altmodischen Krimis von Dorothy L. Sayers.
    Aber in meinem Zustand auch sehr bekömmlich sind Kataloge. Ich studiere sie mit Vergnügen und gleichzeitiger Besorgnis, war mir doch bisher nicht völlig klar, was ein Neugeborenes alles braucht, um sich in unserer Dreier-WG zügig und wohlig einzuleben: eine Erstausstattung beispielsweise, zu der so seltsame Dinge wie «Flügelbody», «Pucksack» und «Wolle-Seide-Strampler» gehören.
    Ich begegne beim faszinierten Blättern Activity-Centern, Babyschalen, Heizstrahlern, geruchsneutralisierenden Windeleimern, Spucktüchern, Nestchen und Flaschenbürsten.
    Völlig fremd und geradezu etwas unheimlich sind mir die Produkte, die im Themenbereich «Die stillende Mami» angeboten werden: Brustwarzenformer, Brustwarzenschutz, Muttermilchauffangschalen, Brusthütchen und Handmilchpumpen.
    Die Welt meines Babys ist eine fremde und aufregende. Und sie ist gut. Trotz allem.
    Gute Nacht, mein Schlomo.

28. November
    Neben mir sitzt eine Frau, die so unglücklich ist, dass sie nicht freundlich sein kann.
    Man denkt ja immer, Unfreundlichkeit sei das Ergebnis von Arroganz oder Ignoranz. Ich glaube aber, sehr viel häufiger entsteht sie aus Unsicherheit und Unglück.
    Sie ist sehr dick. Sie hat sich hübsch zurechtgemacht, das sieht man. Trägt Ohrringe und eine Jacke, die sie sicherlich für chic hält. Die Mundwinkel der Dame weisen so steil nach unten, dass man sich ein Lächeln in ihrem Gesicht unwillkürlich als ungeheure Anstrengung vorstellt.
    Die Mühe macht sie sich aber auch nicht. Weder dem Kellner zuliebe, der sie fragt, ob sie noch einen Wunsch habe, noch dem kleinen, etwa vier Jahre alten Mädchen zuliebe, das von Tisch zu Tisch geht, um alle Erwachsenen laut giggelnd mit Mamas Kamera anzublitzen.
    Der Barpianist spielt auf Wunsch des kleinen Mädchens «Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald, es war so finster und auch so bitterkalt …».
    Neben mir verziehen sich die Mundwinkel noch weiter nach unten. Vielleicht sollte ich sie fragen, warum sie so ist, wie sie ist. Vielleicht wartet sie nur darauf, dass sie jemand durch eine Frage erlöst. Vielleicht denke ich mir die Geschichte dieser Frau aber auch selber aus.
    Ich liebe diese Abende in Hotelbars.
    Ich bin an der Ostsee, um zu schreiben. Ich will mit meinem neuen Buch «Endlich!» endlich vorankommen und habe mich für drei Tage in einem Hotel in Travemünde eingebucht.
    Tagsüber sitze ich im Zimmer und arbeite, nachmittags schiebe ich meinen Bauch einmal über die Strandpromenade, abends falle ich über das Buffet her, als würde ich zu Hause nichts zu essen kriegen, und abends sitze ich mit meinem Computer und einem großen alkoholfreien Bier an der Bar.
    Ich hasse Bier. Aber ich liebe Alkohol. Und für mich schmeckt, da ich den Unterschied nicht kenne, alkoholfreies Bier nach Alkohol.
    Die dicke Dame bestellt die Rechnung, ohne eine Miene zu verziehen. Kann man das Lächeln verlernen, oder muss man es erlernen? Ich wünsche mir, dass mein Sohn ein freundlicher Mensch wird.
    Am Tisch zu meiner Rechten sitzt eine Frau, etwa Mitte dreißig, für die es eine Anstrengung zu sein scheint, nicht zu lächeln. Sie geht auf Krücken, das habe ich eben im Speisesaal gesehen. Beim Koch hinter der Salatbar hat sie sich für das leckere French Dressing bedankt.
    Jetzt sitzt sie mit ihrem Mann und ihren Eltern hier, und diese vier sind die Einzigen, die applaudieren, wenn der Barpianist eine Pause macht. Er spielt «Bright Eyes» und «My Way».
    Ich bin schon wieder fast am Heulen.
    Die Eltern der Frau mögen etwa sechzig sein. Sie halten Händchen. Er macht einen schlechten Witz, seine Tochter ruft «Papa!» und schlägt in gespieltem Entsetzen die Hände vors Gesicht. Ich erkenne mich wieder.
    Der Pianist spielt «Somewhere over the Rainbow».
    Jetzt heule ich tatsächlich heimlich in mein Bier.
    «Papa», sage ich nur noch, wenn ich bete. Das kommt in letzter Zeit häufiger vor. Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht. Meine Schwester, meine Großeltern, meine Eltern sind leider alle im Himmel gelandet, bevor wir eine große Horde, ein imposantes Empfangskomitee für meinen Sohn bilden konnten.
    Wenn mein Schlomuckel – so die neueste Version, denn auch Arbeitstitel brauchen Koseformen – dreißig ist, werde ich fast siebzig sein, sein Vater beinah achtzig. Meine Eltern wird er nur aus Erzählungen kennen, die ihn vermutlich langweilen werden.
    Jetzt spielt

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