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Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Titel: Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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hungriges Exemplar mit bilderbuchmäßigem Saugreflex – und schaue ihm fasziniert beim Trinken zu.
    Ich, eine über Jahrtausende degenerierte alte Menschenfrau, kann nicht kochen, kann keine Heizung entlüften, kann nicht Fahrrad fahren und bin beim «Zumba»-Tanzen und Power-Yoga eine Niete. Aber ich bin tatsächlich in der Lage, ein Kind an meinem Busen zu nähren.
    Das hilft mir ein wenig über die Kaiserschnitt-Schmach hinweg. «Ich konnte nichts dafür!», sage ich jedem ungefragt, auf ungemachte Vorwürfe reagierend. Als hätte ich bloß eine Geburt zweiter Klasse gehabt. Ist doch albern, so zu denken. Ich denke auch nicht so. Aber ich fühle so.
    Immerhin füge ich dann noch hinzu: «Er hat nicht durchgepasst. Ich bin einfach zu schmal gebaut.»
    Dadurch gelingt es mir, einen Teil meiner verlorenen Ehre zurückzugewinnen. Johanna jedenfalls beglückwünschte mich neidisch zum knabenhaften Knochenbau, hatte eine wenig einfühlsame Ärztin ihr doch einst gesagt, sie könne bei ihrer Statur problemlos Zwillinge entbinden, selbst wenn sie Arm in Arm rauskämen.
    Auf den Krankenhausfluren sind die Kaiserschnitt-Mütter gut zu erkennen. Sie gehen in gekrümmter, verspannter Haltung hinter ihren Baby-Rollwagen her und sind deutlich blasser als die Spontanentbinderinnen, die beschwingt herumhüpfen, sofern sie nicht längst zu Hause sind.
    Mich zieht nichts nach Hause. Im Gegenteil. Am liebsten würde ich noch so zwei, drei Jahre hier bleiben, umgeben von geschultem Fachpersonal, das mir die Bedienung meines Babys so lange erklärt, bis es mir selber sagen kann, was eigentlich los ist.
    Denn, wie der Name schon sagt, ist ein Neugeborenes in erster Linie eines: neu.
    Erschwerend hinzu kommt: Es spricht nicht. Man kennt sich nicht und kann sich nicht unterhalten. Schwierig.
    Da wächst dieses Teilchen vierzig Wochen lang in einem heran, und dann ist man sich trotzdem fremd. Das ist irgendwie enttäuschend. Mindestens so enttäuschend wie der Blick in den Spiegel am Tag nach der Entbindung. «Haben die da noch ein Kind drin vergessen?», fragte ich die Hebamme, missmutig auf meinen Bauch deutend. Schließlich habe ich Heidi Klum vor Augen, die vier Wochen nach der Geburt ihres Kindes schon wieder in Unterwäsche über den Laufsteg geschwebt war.
    Das erscheint mir aber bei genauer Betrachtung meines Körpers kaum zu schaffen.
    Nein, mir wird ganz bang, wenn ich an meine Entlassung aus dem Krankenhaus denke. «Lasst mich nicht mit diesem Kind alleine», möchte ich verzweifelt schreien und vor dem Schwesternzimmer einen Sitzstreik antreten.
    Voller Angst denke ich an Johanna, deren zweiter Sohn an den berüchtigten Dreimonatskoliken litt. Er schrie und schrie und schrie. Tag und Nacht.
    Und Johanna weinte am Telefon, wenn wir miteinander sprachen, vor Müdigkeit, vor Verzweiflung, vor bitterer Enttäuschung, dass das Leben mit einem sehnlichst erwünschten Baby so grausam an den Nerven zehren kann, dass du dir nichts mehr wünscht, als endlich mal wieder in Ruhe aufs Klo gehen zu können.
    «Arbeiten gehen ist der wahre Mutterschutz», hatte Johanna gesagt und ihren Mann beneidet, der morgens ins Büro floh, während sie ihren bereits wieder schreienden Sohn herumtrug und versuchte, ihn so lange durch Lieder zu beruhigen, bis ihr das Repertoire versiegte und sie heulend sang: «He, ho, wir gehn in Puff nach Barcelona!»
    Hatte aber auch nichts gebracht.
    Johanna sagte damals zu mir: «Mit der Geburt beginnt der freie Fall. Du bringst etwas zur Welt, das komplett von dir abhängig ist. Aber du hast von nichts ’ne Ahnung. Auf einmal hast du es mit einem echten Menschen zu tun, der leidet, Bedürfnisse hat und Ängste. Ein Mensch, den du mehr liebst als dein eigenes Leben, der sich aber nicht akkurat mitteilen kann. Es gibt kein System, das sicher funktioniert. Dabei sind wir doch gewohnt, dass alles nach einem System funktioniert. Ich habe eine Excel-Tabelle mit dem Schlafprotokoll meines Sohnes angefertigt. Seine Still- und Scheißzeiten hätte ich in einer beeindruckenden PowerPoint-Demonstration präsentieren können. Und? Er schreit einfach weiter. Ich kann meinem Kind nicht helfen. Hilfe! Ich habe die Oberhoheit über mein Leben und meinen Körper abgeben müssen. Ich war noch traumatisiert von den Wehen, bei denen ich dachte, mir explodieren die Augäpfel und Gehirnmasse spritzt mir aus den Ohren. Statt sich davon erst mal erholen zu können, geht der Stress sofort weiter mit einem Körper und mit einem Kind, die

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