Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
beide nicht so funktionieren, wie man das gerne hätte. Wer redet denn schon offen über so ekelige Sachen wie Inkontinenz und Depressionen nach der Geburt? Einmal gehustet – schon ist die Hose voll! Die dritte Nacht mit Baby habe ich durchgeheult. Ich war verzweifelt über die nicht mehr rückgängig zu machende Veränderung meines Lebens und gleichzeitig zutiefst beschämt, dass ich diese Verzweiflung empfand. Ich hatte ein gesundes Wunschkind geboren. Glückseligkeit, dachte ich, müsste doch mein Pflichtzustand sein. Und ganz ehrlich, das Thema Wochenfluss müsste mal im Bundestag debattiert werden, damit man erfährt, was da so rein mengenmäßig auf einen zukommt. Du denkst sonst ja, wenn du nichtsahnend unter der Dusche stehst, du seiest die Hauptdarstellerin in dem Remake von ‹Psycho›. Aber das sagt dir natürlich niemand. Denn drei Monate später hört dein Kind schlagartig auf zu schreien, und du vergisst alles, was davor war.»
Drei Monate später hörte Johannas Sohn schlagartig auf zu schreien, und sie vergaß alles, was davor war.
Ich leider nicht. Ich habe viel zu viele Sätze gehört, die mit den Worten anfingen: «Ganz ehrlich …» oder «Das sagt dir natürlich keiner …». Ehrlichkeit wird meines Erachtens völlig überschätzt, und wenn sich zu bestimmten Themenbereichen keiner detailliert äußern mag, dann hat das vielleicht auch einen guten Grund.
Morgen werden mein Sohn und ich ins wahre Leben entlassen. Ganz ehrlich: Ich rechne lieber mal mit dem Schlimmsten.
«Kinder sind die lebenden Botschaften,
die wir in eine Zeit übermitteln,
an der wir selbst nicht mehr teilhaben werden.»
NEIL POSTMAN
25. April
D as Buch auf dem Nachttisch, aufgeschlagen auf der Seite, die ich las an meinem letzten kinderlosen Abend. Die angebrochene Tube Tomatenmark. Hatte Spaghetti gegessen, kurz bevor es losging. Die DVD im Recorder. Die Mail von den Stadtwerken, dass am einundzwanzigsten April die blauen Altpapiertonnen geleert werden. Im Wäschekorb die Umstandsjeans, die mir jetzt (hoffentlich) zu groß sein wird.
Fremde Welt, in die ich aus dem Krankenhaus zurückkehre. Alles erscheint mir seltsam, weit weg, nichtig. Überbleibsel aus einem fernen Leben, in dem es ihn noch nicht gab.
Mein Vater starb unerwartet. Der Kurzwellenempfänger eingestellt auf den Sender, den er tagein, tagaus hörte: «Radio Freies Europa». Die Schokolade, seine Lieblingssorte «Ritter Sport Nougat», angebrochen im Küchenschrank. Sein Schlafanzug unter dem Kopfkissen roch noch nach ihm. Seine letzten Worte am Telefon, kurz bevor er ins Krankenhaus ging: «Ich hab dich lieb, mein Schätzchen.» Die letzten Worte in seinem Leben: «Macht euch keine Sorgen um mich.»
Fremde Welt, in die ich von seinem Sterbebett zurückkehrte. Alles erschien mir seltsam, weit weg, nichtig. Überbleibsel aus einem fernen Leben, in dem es ihn noch gab.
Ich sah meinem Vater als Kind sehr ähnlich. «Schon rein auf Sicht müsstest du Alimente zahlen», sagte meine Mutter zu ihm. Ein häufig wiederholter Scherz, der meinen Vater stets und immer wieder stolz machte. «Papas Tochter», sagten die Leute. Er konnte es nicht oft genug hören.
Mein kleiner Sohn sieht so haargenau aus wie sein Vater, dass es fast schon lächerlich ist. Selbst mein Mann, der nicht einmal eine Ähnlichkeit zwischen den Kessler-Zwillingen feststellen würde, sagt, es sei befremdlich. Er hätte neulich beim Windelwechseln den Eindruck gehabt, sich selbst zu wickeln.
Sogar diesen hanseatischen, etwas abschätzigen Gesichtsausdruck legt unser Baby schon an den Tag. Mündchen spitz, eine Augenbraue hochgezogen. Beim Stillen sieht er aus, als hätte die Milch Kork und zudem nicht den von ihm bevorzugten Jahrgang.
«Papas Sohn», sage ich dann und freue mich, dass ich wie meine Mutter klinge.
Die ersten drei Wochen
Die Hebamme ist mir, wider Erwarten und wohl auch aus Mangel an Alternativen, sehr ans Herz gewachsen.
Sie kommt jeden Tag und weist mich in den grundlegenden Umgang mit dem Baby und anderen sich nicht selbst erklärenden Dingen ein.
Sie bringt mir und meinem Mann den Fliegergriff bei, eine rasant lässige Art, das Baby auf einem Unterarm zu transportieren. Sie zeigt mir unterschiedlichste Stillpositionen und versucht, klare Antworten zu geben auf Fragen wie: Warum schreit es? Warum schreit es nicht? Was sind das für hässliche Pickel auf seiner Nase? Brauchen andere Leute auch zehn Minuten, um ihr Kind auf dem Autorücksitz festzuschnallen?
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