Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
nicht nur, sondern es kneift und tritt gleichzeitig, oder es droht damit, sich irgendwo hinunterzustürzen oder ein Erbstück von hohem ideellem und finanziellem Wert zu zerstören.
Jeden Tag sieht man mich schmallippig in den Keller hinuntersteigen, um erneut ein liebgewonnenes, zerbrechliches Dekorationsobjekt in Sicherheit zu bringen. Jeden zweiten Tag sieht man mich, noch etwas schmallippiger, an den Mülltonnen, um erneut ein liebgewonnenes, zerbrochenes Dekorationsobjekt zu entsorgen. Vor der Bewegungsfreude eines zehn Monate alten Kindes ist nichts und niemand sicher.
Und auch als Mutter schwebt man pausenlos in Gefahr. Mein Junge zum Beispiel ist jetzt dazu übergegangen, mir seine Zuneigung nicht mehr bloß durch ein engelsgleiches Lächeln zu zeigen. Stattdessen stürzt er sich gerne aus heiterem Himmel kreischend auf mich, um mir wahlweise in Nase, Wange oder Hals zu beißen oder mich mit einer gezielten Kopfnuss niederzustrecken.
Diese anfallartigen Sympathiebekundungen enden nicht selten blutig oder mit deutlich sichtbaren Abdrücken von insgesamt vier Zähnen in meinem Gesicht.
Mein Mann öffnete neulich dem Paketboten die Tür, ohne zu bemerken, dass sein Sohn ihm die Stirn zerkratzt hatte. Mit dem Rinnsal Blut zwischen den Augen sah er original so aus wie die Opfer in amerikanischen Actionfilmen, die von einem Scharfschützen mit einem einzigen Schuss niedergestreckt wurden.
Das Gesicht unseres Sohnes sieht allerdings oft nicht viel besser aus. Bedauerlicherweise hat er meinen blassen Teint geerbt, auf dem jeder Kratzer und jeder blaue Fleck einen ungeheuer intensiven Eindruck hinterlässt.
Ich muss hier einmal etwas über Tür- und Treppenschutzgitter loswerden. Sollten Sie irgendwelche Probleme beim Zusammenbauen oder Anbringen dieser Sicherheitsvorrichtungen haben, dann fragen Sie auf keinen Fall mich um Hilfe. Und meinen Mann auch nicht. Ich möchte an dieser Stelle auf seinen Abschluss in Literaturwissenschaft und die entsprechenden handwerklichen Unfähigkeiten hinweisen.
Es macht mich grundsätzlich skeptisch, wenn ich in Gebrauchsanweisungen Begriffe lese wie «kinderleicht» oder «mit wenigen einfachen Handgriffen zu montieren».
Ich habe schon Stunden mit angeblich «kinderleichten» Selbstbaumöbeln verbracht, eines von ihnen steht immer noch auf dem Dachboden. Ein trauriger Bretterhaufen, aus dem nie auch nur annähernd das geworden ist, was er «mit wenigen einfachen Handgriffen» angeblich hätte werden können.
Unsere Tür- und Treppenschutzgitter wurden jedenfalls von einem Fachmann befestigt. Mir selbst hätte ich in dieser Angelegenheit nicht über den Weg getraut, und eine von mir gesicherte Treppe halte ich für tausendfach gefährlicher als eine gänzlich ungesicherte.
Ich fühlte mich jedenfalls enorm erleichtert beim Anblick der diversen Gitter. Ich atmete auf, mein Sohn war gerettet. Tags darauf kam der kinderlose Marcel zu uns zu Besuch.
Mir liegt viel an der Freundschaft zu Menschen ohne Kinder. Ehrlich. Aber es ist nicht immer einfach. Ich bemühe mich schon redlich, ziemlich wenig und nur auf einigermaßen aufrichtige Nachfragen über mein Baby zu sprechen.
Alles, was die Konsistenz seiner Exkremente, sein engelsgleiches Äußeres und seine fraglos überwältigende Intelligenz betrifft, lasse ich ganz weg. Ich habe kein Foto von ihm als Bildschirmschoner oder auf dem Handy-Display, und ich verschicke nur selten ungefragt minutenlange Videosequenzen als E-Mail-Anhang, auf denen mein Sohn einfach nur so rumliegt und faszinierend grunzt.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie herrlich es war, kein Kind zu haben – solange mich nicht Eltern mit den stinklangweiligen Anekdoten ihres Nachwuchses angeödet haben. Kinder sind was für Eltern, habe ich damals gelernt. Und ich habe es mir bis heute zu Herzen genommen.
Aber heute leide ich manches Mal unter der Rüpelhaftigkeit der Menschen, die keine Eltern sind. Ist es wirklich nötig, lieber Marcel, unser Wohnzimmer mit den Worten zu kommentieren: «Rein designmäßig betrachtet habt ihr euch durch das Kind ja nicht gerade verbessert.»
Klar, so ein Laufstall vor dem Regal ist nicht jedermanns Sache, das weiß ich selbst, und auch, dass der Flachbildfernseher einen Gutteil seiner Würde verloren hat, seit er als Halterung für ein bei Babys sehr beliebtes Vögelchen-Mobile missbraucht wird.
Und ja, auch ohne sachdienliche Hinweise ist mir bewusst, dass der Art-déco-Esszimmertisch keinen tiefen Eindruck mehr
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