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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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Menschen infiziert war. Diesmal aber hatte den künftigen Gebieter des Palmenwegs solch eine Wehmut ergriffen, so aussichtslos und schwarz erschien ihm die Zukunft, dass nicht einmal Wein half. Es gab keinen Menschen, bei dem er sich hätte beklagen können (man hätte ihn einfach nicht verstanden), also blieb nur eins: seinen Kummer mit dem bösen Mond und den vier Kamelen zu teilen.
    Vom ehrerbietigen Schweigen der Menge begleitet, schritt Ar-Scharlachi mit hartnäckig gesenktem Haupt in majestätischer Einsamkeit zu dem eilends wiederhergestellten Tempelchen, das an den Ecken mit den gehörnten Bronzeköpfen geschmückt war. Als er an der Schwelle, wie es sich gehörte, die Schuhe abgelegt hatte, nahm er aus den Händen des Priesters ein kleines Gefäß mit rauchenden Kräutern entgegen und breitete auf dem nackten Steinboden seinen Teppich vor dem rötlich grauen, staubigen Stückchen Filz aus, das aus der Unterwolle eines Kamels gefertigt war.
    Wovon flüsterte er mit den Lippen, wobei er sich von Zeit zu Zeit auf die Knie warf und den Blick auf die metallische Spiegelscheibe mit den Umrissen der Mutter Kamelstute richtete? Der kahl geschorene Priester und auch die Menge vor den Mauern des Tempels waren sich sicher: Er bat um Hilfe gegen das verhasste Harwa. Wohl nur Aliyat wusste, dass Harwa Ar-Scharlachis liebste Stadt war und der künftige Gebieter des Palmenwegs wohl kaum darauf brannte, es vom Antlitz der Erde hinwegzufegen. Ar-Scharlachi wandte sich nacheinander an alle vier Kamele (Wie hatte sich Tiangi ausgedrückt? »Ein großes Tier ohne Horn, ziemlich hässlich. Und obendrein spuckt es …«) und schüttete auf recht eigenartige Weise sein Herz aus: Das Gebet ging immer wieder in Flüche über und die Flüche ins Gebet. Drei Kamele lauschten den Lästerungen mit hochmütigem Gleichmut. Das vierte, Ai-Agwar, dessen Symbol der Sand und dessen Himmelsrichtung der Süden war, antwortete, aber irgendwie seltsam. Gegen Abend stürmten von Süden her unerhört dichte Wolken auf Ar-Ajafas Schatten zu, und ein Sturzregen ging nieder. Es war, als habe Ai-Agwar auf einen Schlag das für mehrere Jahre aufgesparte Wasser über der Wüste ausgegossen. Nasse Baumkronen knackten und brachen, in den Gräben schäumte und brodelte das Wasser, dünner Schlamm floss durch die engen Gassen wie eine Mure. Man konnte sich vorstellen, was jetzt in der Wüste mit den von der Sonne ausgeleckten Seen und den trockenen Flussbetten geschah!
    Es war schwer zu sagen, wem dieser unerwartete Wolkenbruch zupasskam – dem Palmenweg oder Harwa. Jedenfalls konnte die nächsten zwei Tage von keinerlei Truppenbewegungen die Rede sein. Der kahl geschorene Priester jedoch deutete das Ganze als ein Zeichen zugunsten Scharlachs, was am Morgen darauf ein skelettdürrer Tempeldiener mit langer Haarmähne über dem rasierten Hinterkopf dem Volk denn auch verkündete. Kahirab zog nur besorgt die starrsinnigen Brauen zusammen – die Sintflut störte seine Pläne. Was Ar-Scharlachi anging, so schloss er sich, froh über den unverhofften Aufschub, in dem ihm zugeteilten Haus ein und versuchte, wie es seine Gewohnheit war, alle seine Sorgen vorübergehend zu vergessen.
    Der Regen hörte erst gegen Morgen auf – ebenso schlagartig, wie er begonnen hatte. Die drei Schalen des Bronzeleuchters warfen einen rosa Lichtschein auf große Tropfen, die am Rahmen des niedrigen Fensters zitterten. Von den breiten Blättern tropfte das Wasser in rascher Folge, aber unhörbar – alles wurde vom Tosen des wirbelnden und schäumenden Wassers in den Gräben übertönt.
    »Glaubst du es jetzt?«, fragte leise, abgehackt Aliyat, die sich beinahe in Ringen um den erschöpften Ar-Scharlachi gewunden hatte. Eine zärtliche Kobra.
    Er seufzte und gab keine Antwort. Es ging auf den Morgen zu, und damit kehrte auch die Niedergeschlagenheit des Vortages zurück.
    »Was bläst du denn Trübsal? Es läuft doch alles gut …«
    »Ja …«, erwiderte er schließlich bedrückt. »So gut, dass man nicht weiß, wohin man weglaufen soll …«
    »Du darfst nicht weglaufen«, murmelte Aliyat wie im Halbschlaf.
    »Warum?«
    »Ohne dich sind doch alle verloren … und ich auch …«
    Eine Weile schwieg er unzufrieden.
    »Sind sie nicht. Du sagst doch selbst, dass Kahirab auch ohne meine Hilfe zurechtkommt.«
    Sie schnaufte. »Kahirab! Kahirab ist ein Emporkömmling. Sogar wenn er zu denen gehört, wie du sagst … zu den ›Bemalten‹ … ihm wird niemand folgen. Du aber bist

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