Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
Vom Netzwerk:
er, dass es leichter wäre, sich aus stählernen Fesseln loszureißen.
    Man führte sie über moosbewachsenes Pflaster zum Kleinen Palast. Aus den Augenwinkeln sah Ar-Scharlachi den rosa Würfel des Tempels. Die Ecken des Gebäudes waren oben (dort, wo früher die Statuen der Kamele prangten) abgeschlagen und teilweise eingefallen. Dort auf der Ostecke hatte das Kamel namens Ganeb gestanden – mächtig, mit Stacheln an den knochigen Knien, den Hals mit Panzerschuppen bedeckt …
    Hinter ihnen knarrten Achsen – die Postgaleere fuhr im Rückwärtsgang davon.
    Die Treppe zur Veranda des Palasts war so breit, dass die Gefangenen nebeneinander geführt wurden. Ar-Scharlachi wandte den Kopf und sah nicht ohne Schadenfreude, dass Aliyat sehr blass war … Was, Kobra? Hast du Angst? Aha!
    Jetzt wurde es ernst … Doch im nächsten Augenblick stockte ihm selbst vor Furcht der Atem. Dort, hinter der Tür aus durch brochenem Schmiedeeisen, in der dämmrigen Tiefe des Palasts wartete ihrer beider Schicksal …
    »Da sind sie, Herrscher!«, erklärte mit bebender Stimme der hinter den Rücken der Wachen hervorgetretene Würdenträger in dem flammenden Mantel.
    Obwohl Ar-Scharlachi schon alles vor den Augen verschwamm und ihm die Knie weich wurden, nahm er doch mit einem Zipfel seines Bewusstseins wahr, wie unerwartet das alles war. Es hatte keinen Bericht gegeben, keine Zeremonie … Einfach so konnten sie allesamt in die Gemächer des Herrschers hereinplatzen? Selbst der ehrwürdige Ar-Maura hatte mehr Respekt erheischt …! Noch etwas anderes war erstaunlich: In dem geräumigen Zimmer, das mit düsteren lila Seidentüchern drapiert war, befand sich niemand. Hinter einem kleinen Tisch, auf dem sich Pergamente türmten, saß nur ein bescheiden gekleideter Sekretär. Ar-Scharlachi schoss der absurde Gedanke durch den Kopf, der Herrscher müsse wohl wirklich unerforschlich sein … für die Blicke gewöhnlicher Sterblicher …
    Doch da hob der Sekretär den Kopf. Ar-Scharlachi sah das blasse, abgezehrte Gesicht mit den tief eingesunkenen, unmenschlich scharf blickenden Augen – und zuckte zusammen. Ein Sekretär konnte keine solchen Augen haben! Hinter dem Tisch, auf dem sich Pergamente türmten, saß Ulqar der Einzige selbst – der Unsterbliche, Unerforschliche und Allmächtige.
    Im nächsten Moment stand der Herrscher geschwind von dem Tisch auf und trat an Ar-Scharlachi heran, dass er ihn fast berührte. Dieser wich unwillkürlich zurück. Nicht besonders groß, hager, mit schwarzen Augenringen ähnelte Ulqar überhaupt nicht seinen zahlreichen Bildnissen. Ar-Scharlachi hatte immer geglaubt, er müsse wesentlich älter sein. Mindestens so alt wie Ar-Maura …
    »Die Gesichter! Enthüllt die Gesichter!«, zischte der Würdenträger. »Ihr steht vor dem Herrscher!«
    Die eingesunkenen, stechenden Augen wandten sich dem Sprecher zu. Alle schwiegen erschrocken.
    »Glaubst du, ehrwürdiger Tamsaa«, erklang eine leise, brüchige Stimme, »dass irgendein Lappen mich hindert, in die Seele eines Untertanen zu blicken?«
    Dies gesagt, wandte sich der Herrscher abrupt zu Ar-Scharlachi um, durchbohrte ihn geradezu mit Blicken. Es war schwer zu sagen, was er wohl in der Seele des Gefangenen las, doch über die schmalen, spöttischen Lippen des Unerforschlichen und Unsterblichen huschte ein Lächeln. Als reglose Türme schwarzer Seide waren hinter ihm die Wächter erstarrt. Der Würdenträger deutete schuldbewusst eine Verbeugung an.
    »Nun denn, mein unruhiger Untertan Scharlach«, ließ sich der Herrscher langsam vernehmen. »Deine Taten sind mir bekannt, doch sie interessieren mich nicht. Nehmen wir an, sie haben überhaupt nicht stattgefunden … Ich habe dich kommen lassen, um dir eine einzige Frage zu stellen …« Ulqar verstummte, sein Gesicht erschlaffte, dann hob er den Blick aus den umflorten Augen und fragte, beinahe schon flüsternd: »Den Weg zum Meer … du kennst ihn?«
    »Unerforschlicher und Unsterblicher, ich …«
    »Ohne Zeremonien!« Ulqar hob warnend die Hand. »Es heißt, dass du einen Weg zum Meer entdeckt hast. Antworte geradezu: ja oder nein?«
    Ar-Scharlachi schluckte krampfhaft. Ihm war klar, dass von seiner Antwort alles abhing.
    »Ja, Herrscher …«, brachte er schließlich heraus.
    Der Unerforschliche und Unsterbliche senkte zufrieden den Kopf und verharrte recht lange in dieser Pose. Die anderen standen ebenfalls reglos da, vermieden ängstlich jede Bewegung. Schließlich nickte der Herrscher und ließ

Weitere Kostenlose Bücher