Unter dem Räubermond
werden?«
Ar-Scharlachi war verwirrt. »Ja, aber …«, stammelte er hilflos. »Worin besteht das Verbrechen? Es gab doch ein Edikt des Herrschers, wonach es in den Wüsten keinen Raub gibt …«
Die Nacktfresse lächelte herablassend. »Natürlich nicht«, bestätigte er. »Aber mit deinen Taten hast du vielen Menschen Anlass gegeben, daran zu zweifeln. Sodass deine Schuld offen zutage liegt …«
Mit diesen Worten verließ der Ehrwürdige den Verschlag.
»Und weißt du, was wir für gewöhnlich mit Denunzianten machen?«, erkundigte sich Aliyat mit schläfriger Stimme. »Wenn wir sie erwischen, versteht sich …«
»Dass dich doch der nickende Hammer erschlägt …!«, fluchte Ar-Scharlachi und drehte sich wieder zur Wand.
Er hätte diesen Würdenträger lieber nicht ansprechen sollen. Abermals regten sich die schlimmsten Vorahnungen. Ar-Schar lachi lag auf der Seite und betrachtete gedankenlos den dünnen Stahlring an seinem Handgelenk. Unter Oreya dem Vierten hatte es solche Fesseln nicht gegeben … Es hatte schwere eiserne Handschellen gegeben, oft waren sie rostig gewesen. Aber sich daraus zu befreien war viel einfacher gewesen. Diese aber … Ein eleganter Armreif, das reinste Schmuckstück für Frauen, noch dazu mit einem winzigen Schloss, aber versuch mal, es durchzufeilen! Keine Aussicht …! Ja, man hatte in Harwa eine Menge gelernt in den letzten fünf Jahren. Das Zeitalter der Kampfschilde und der Stahlketten …
Ar-Scharlachi grinste schief und wurde sogleich wieder unruhig. Die Galeere hatte anscheinend den zweiten inneren Hafen längst passiert und war jetzt offensichtlich unterwegs zum ersten. Also das war ja unerhört! Der erste Hafen war vor über hundert Jahren freigemacht und gepflastert worden, als Harwa eine Ansammlung von Hütten gewesen war, die sich, mit Palmblättern gedeckt, um die Wachtürme der Zitadelle und den nunmehr abgeschafften Tempel der Vier Kamele drängten. Zu klein, um Kriegsgaleeren aufnehmen zu können, wurde dieser alte Hafen jetzt ausschließlich als Standplatz der leichten, an Spielzeug erinnernden Schiffe benutzt, die dem Adel gehörten und hauptsächlich für zeremonielle Ausfahrten und Spazierfahrten dienten.
»Am Gefängnis sind wir vorbei …«, teilte Ar-Scharlachi kleinlaut mit, halb umgewandt. »Bringen sie uns etwa wirklich direkt zum Herrscher?«
Wie zu erwarten, antwortete Aliyat nicht. Als er zu ihr hinschaute, erkannte Ar-Scharlachi, dass sie nicht schlief, sondern angespannt auf etwas horchte. Er lauschte ebenfalls. An Deck unterhielten sich unweit ihres Verschlages leise zwei Männerstimmen.
»… fährst du die Galeere dicht an den Palast, lädst beide aus – und sofort zurück.«
»Gefesselt ausladen?«
»Nein … Das ist nicht nötig.«
»Bewachung?«
»Ist auch nicht nötig. Dort nimmt sie die Wache des Herrschers in Empfang …«
Die Stimmen wanderten in Richtung Heck weg, wurden unverständlich. Anscheinend unterhielten sich da, während sie über Deck spazierten, der Treiber der Postgaleere und der an Bord genommene Würdenträger.
»Ja, was habt ihr beide denn da bloß angestellt?«, konnte sich Ar-Scharlachi nicht verkneifen zu fragen, doch eine Antwort erhielt er wieder nicht.
Übrigens hätte Aliyat auch gar nicht antworten können, denn die Tür wurde abermals geöffnet, und ein riesiger Wächter zwängte sich in den Verschlag. Nachdem er zweimal mit einem winzigen Schlüsselchen geklickt hatte, befreite er Ar-Scharlachi von den Fesseln, stieß ihn hinaus und beugte sich über Aliyat. »Zum Ausgang! Schneller, schneller, nicht trödeln!«
Trotzdem blieb Ar-Scharlachi, als er auf das Fallreep trat, unwillkürlich stehen, wofür er einen Stoß in den Rücken erhielt. Eine Hauptstadt, schöner als Harwa, kannte er nicht und konnte er sich nicht einmal vorstellen. Gefiedertes Grün, filigraner rosa Stein und von drei Seiten die zum Zenit aufragenden Berge – eisig, zerklüftet, wie von Tau bedeckt. Und zwischen ihnen der strahlend blaue und feucht wirkende Himmel. Ein Himmel, wie man ihn nur hier sehen konnte.
Die Wache des Herrschers erwartete sie tatsächlich am Fallreep – große, schweigsame Burschen mit steinernen Gesichtern, alle in schwarzen Seidenmänteln. Ohne Schilde und, ein paar Dolche in den Gürteln nicht gezählt, praktisch unbewaffnet. Und wozu sollte man in Harwa auch Spiegelschilde brauchen? Höchstens zur Parade … Doch als sich die Finger der Wächter um beide Handgelenke Ar-Scharlachis schlossen, fühlte
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