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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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hatte ihn einfach geopfert. Der Richter, der Sekretär, der Anführer der ersten Wache – alle drei hatten sie mit unverhüllter, schamloser Dreistigkeit ihre eigene Haut gerettet. Und der Räuber war natürlich entwischt … Zumindest waren sie ihm nicht auf die Spur gekommen … Es konnte durchaus sein, dass Scharlach Ar-Mauras Schatten gar nicht verlassen hatte, dass er sich im Hause irgendeines Komplizen verbarg und wartete, bis sich die Aufregung legte. Welchen Sinn hatte es, den Räuber zu fangen, wenn er schon vorgestern gefangen und heute Morgen mit der Postgaleere nach Harwa geschickt worden war?
    Und in Harwa kannte natürlich niemand Scharlach von Angesicht. Woher auch? Er hatte entlang des Palmenwegs geräubert und war nicht in die Nähe der Vorberge gekommen … Aber Ar-Scharlachi mussten sie von Angesicht kennen! Ihn kannte, wenn es darauf ankam, halb Harwa, jeder würde bestätigen, dass er er war und nicht irgendein Scharlach … Nein, es stand alles doch nicht gar so schlecht …
    Ar-Scharlachi stand auf, soweit es die kurze Stahlkette zuließ, und klopfte mit der Faust gegen die Wand. Er hämmerte so lange dagegen, bis die niedrige Tür geöffnet wurde.
    »Was lärmst du?«
    »Hört! Es ist ein Irrtum geschehen … Ich bin nicht Scharlach! Ich bin Ar-Scharlachi!«
    Die Nacktfresse runzelte verständnislos die Stirn. »Wo ist der Unterschied?«
    »Was heißt: Wo …?« Ar-Scharlachis Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich heiße Ar-Scharlachi …«
    »Ja, richtig«, sagte die Nacktfresse unzufrieden. »In den Begleitpapieren steht ja, dass das ein und dieselbe Person ist … Und wenn du Krach machst, ketten wir dich auch noch am Bein an.«
    Die Tür wurde geschlossen, und aufheulend ließ sich Ar-Scharlachi auf die Bodenbretter sinken. Er war erledigt … »Ein und dieselbe Person …« Die Schakale! Auf diesen Gedanken hatte nur der ehrwürdige Ar-Maura kommen können, sonst niemand! Er wusste ja von jener lange zurückliegenden Denunziation … Na, Richter! Na, Richter! … »Verzeih … Es hat sich halt so ergeben …« O nein, Ehrwürdiger, so etwas wird niemandem verziehen …
    Und was, wenn er … Er könnte ja selbst Ar-Maura glatt denunzieren … Hat aufrührerische Gespräche mit einem Gefangenen geführt, den Herrscher schlechtgemacht, verlangt, den Palmenweg aufzuwiegeln … Hat den echten Scharlach vorsätzlich entkommen lassen und den völlig unschuldigen Ar-Scharlachi an dessen Stelle geschoben, weil er fürchtete, der könnte ihn verraten … Hm, das passt ja alles recht gut …
    Nein. Ob es passt oder nicht, aber wer würde es bestätigen? Der Richter selbst? Der Sekretär? Oder vielleicht der Anführer der ersten Wache …? Nun, diese drei könnte man immerhin der Verschwörung bezichtigen, zumal das ja sogar zutraf … Aber da war ja noch Aliyat! Die würde ohne mit der Wimper zu zucken schwören, dass der Mann, der mit ihr in der Postgaleere eingetroffen war, kein anderer als Scharlach sei …
    Voller Verzweiflung knirschte er mit den Zähnen und schlug mit der Stirn gegen den Fußboden. Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen und begann zu stöhnen wie unter Schmerzen. An der Wand gegenüber fuhr Aliyat hoch, setzte sich auf. Ihre dunklen Augen funkelten. »Wenn du nicht aufhörst zu heulen, komme ich nachts und säge dir mit der Kette die Gurgel durch!«
    Die Drohung war sinnlos – die dünnen Stahlketten, mit denen man die Gefangenen an gegenüberliegende Wände des engen Verschlags gefesselt hatte, waren keine Elle lang. Trotzdem schrie Ar-Scharlachi wütend auf und versuchte die Frau mit der freien Hand zu erreichen, was ihm aber natürlich nicht gelang. Aliyat stellte es klüger an: Sie stützte sich mit den Armen auf den Boden und versetzte ihm einen Tritt mit dem Fuß. Ar-Scharlachi wurde gegen die Wand geschleudert.
    »Kobra!«, zischte er heiser und erwiderte hasserfüllt den Tritt, der freilich ins Leere ging, weil Aliyat darauf gefasst war.
    Da stürmten die Wächter in den Verschlag, streckten beide an der jeweiligen Wand aus und ketteten sie auch noch am Fuß an.
    Am zweiten Tag tauchten im gelblichen Dunst genau vor ihnen die bläulichen und flachen, wie aus durchsichtigem Papier geschnittenen Umrisse der Vorberge auf. Ihnen entgegen glitten Inselchen von graugelbem Pflanzenwuchs, das Giftgrün von Bewässerungsfeldern huschte vorbei.
    Ar-Scharlachi konnte natürlich nichts von alledem sehen, doch daran, wie sich die Fahrt der Galeere veränderte, hatte er

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