Unter dem Räubermond
den Blick munter, um nicht zu sagen fröhlich, über die Anwesenden schweifen.
»Beiden zu essen geben«, befahl er. »Sie zu Bett bringen. Und morgen …« Ulqar stockte und schaute den Würdenträger besorgt an. »Was ist mit der Karawane?«
»Sie ist bereit, Herrscher.«
»Sehr gut … Und wer wird sie führen?«
»Der ehrwürdige Chaïlsa.«
»Chaïlsa?« Ulqar runzelte irritiert die Stirn. »Obwohl … Die Zeiten sind ruhig … Na schön. Wie du willst.« Er wandte sich wieder Ar-Scharlachi zu. »Also werdet ihr beiden morgen dem Karawanenführer zur Verfügung stehen, dem ehrwürdigen Chaïlsa. Ihr werdet ihm den Weg weisen.«
»Wohin, Herrscher?«
»Zum Meer.«
Neben Ar-Scharlachi schluchzte Aliyat krampfhaft auf – und sackte langsam zu Boden.
6
Die Reise beginnt
I n einem abgelegenen Flügel des Palasts wurde ihnen ein kleines, fast quadratisches Zimmer zugewiesen, mit vier Bronzeleuchtern, braunen Seidentüchern an den Wänden und einem spitzbogigen Fenster mit kunstvoll geschmiedetem Gitter. Zwei niedrige Betten, ein Tisch mit sonderbar gekrümmten Beinen, ein paar leichte geschnitzte Stühle. Sie hätten sich durchaus als Gäste fühlen können, wären nicht die dünnen Stahlketten gewesen, mit denen man sie wieder gefesselt hatte – jeden an sein Bett.
Die Flammen in den Bronzeleuchtern flackerten, vor dem Fenster wogte in der Dunkelheit das grün gefiederte Laub. Mücken und dergleichen fliegendes Ungeziefer gab es in Harwa um diese Jahreszeit kaum.
Ar-Scharlachi war solch eine Umgebung gewohnt; was indes Aliyat anging, die zum ersten Mal in der Hauptstadt war, so begegnete sie allen diesen Feinheiten der Zivilisation mit offener Feindseligkeit. Anscheinend wollte es ihr nicht in den Sinn, wie man einfach auf einem Stuhl sitzen konnte. Auf einem Stuhl saß man nicht – auf einem Stuhl thronte man, um ein Urteil zu verkünden oder, sagen wir, ein Edikt des Herrschers … Die Idee eines Bettes oberhalb des Fußbodens war ihr auch nicht recht verständlich.
Da aber das Abendessen auf dem Tisch stand, musste die Räuberin wohl oder übel einen Stuhl benutzen. Ohne sich zu zieren, nahm Ar-Scharlachi den Schleier vom Gesicht. Aliyat fauchte nur böse, sagte aber nichts, und einige Zeit später enthüllte sie ihr Gesicht ebenfalls.
»Was ist denn nur in dich gefahren?«, sagte Ar-Scharlachi beiläufig, während er Wein in die Zinnbecher goss. »Hast dich wacker gehalten – und dann auf einmal eine Ohnmacht!«
Die Frage hatte eine ganz unerwartete Wirkung. Aliyat schaute erschrocken hoch, legte mit zitternder Hand den mittendurch gerissenen gebratenen Vogel zurück auf den Teller, und eine Sekunde lang schien es Ar-Scharlachi, als würde die Räuberin wieder das Bewusstsein verlieren und unter den Tisch rutschen.
»Das Meer …«, brachte sie in kläglichem Ton hervor.
»Ja und?«
»Das Meer ist der Tod …«
Ar-Scharlachi machte »hm« und kratzte sich an der Braue. »Moment, Moment … Seid ihr etwa tatsächlich zum Meer gelangt?«
Aliyat zuckte zusammen. »Nein«, sagte sie. »Natürlich nicht … Ich habe es nur in Trugbildern gesehen.«
»Na, in Trugbildern habe ich es selbst auch gesehen …« Mit jedem Schluck Wein wurde seine Stimmung friedfertiger. Beispielsweise hatte er keine Lust mehr, Aliyat zu erwürgen. Mehr noch, indem sie Schwäche zeigte, wurde ihm die Räuberin weitaus sympathischer. »Du sagst also – der Tod. Ich aber denke – ganz im Gegenteil. Wenn ich heute gesagt hätte, dass ich den Weg zum Meer nicht kenne …« Ar-Scharlachi grinste. »Wir leben – und gut!«
Er leerte den Becher mit einem Zug, wurde nachdenklich. Dann seufzte er und stürzte sich aufs Essen.
»Was will er denn mit dem Meer?«, murmelte er, während er geschickt mit dem Messer und der zweizinkigen Gabel hantierte. Er verharrte, ohne den Bissen zum Munde geführt zu haben. »Hör mal! Hast du bemerkt, was er für Ringe um die Augen hat? Er ist doch offensichtlich krank!«
»Wer? Der Herrscher? Aber er ist unsterblich!«
»Dem Edikt zufolge schon …« Ar-Scharlachi steckte den Bissen in den Mund und begann mit überaus nachdenklicher Miene zu kauen. »Das ist doch interessant, nicht wahr? Hat sich für unsterblich erklärt, ist sich dessen aber selbst nicht sicher … Und da geht plötzlich das Gerücht um, irgendein Räuber habe den Weg zum Meer gefunden …«
»Das Meer ist der Tod!«, erinnerte ihn Aliyat aufgebracht.
»Das glaubst du mit deinem Scharlach! Aber hier in Harwa hält
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