Unter dem Räubermond
Ar-Scharlachi zu. »So ein Dummkopf ist mir noch nicht begegnet! Chaïlsa … Nie zuvor habe ich von solch einem Karawanenführer gehört …«
»Und sie haben Angst, zum Meer zu fahren«, fügte Aliyat vielsagend hinzu. »Solche Angst, dass sie geradezu in Schweiß ausbrechen!«
»Hm …« Ar-Scharlachi überlegte. »Seltsam«, sagte er. »Können die denn überhaupt nicht denken? Wenn wir beide, wie sie glauben, schon am Meer waren und trotzdem am Leben sind …«
»Ich habe ihnen gesagt, dass wir verzaubert sind«, erklärte Aliyat.
Als er das hörte, staunte Ar-Scharlachi sogar ein wenig. So etwas! Er hatte nicht geahnt, dass sie Sinn für Humor hatte. Noch dazu in so einer Situation … Doch gleich darauf erfasste er, dass das mit Humor überhaupt nichts zu tun hatte.
»Du … was hast du vor?«, fragte er stockend.
Aliyat tat so, als habe sie nichts gehört.
»Etwa eine Meuterei auf dem Flaggschiff anstiften?« Ar-Scharlachi senkte die Stimme aufs Äußerste, dennoch klang die Frage eher spöttisch als erschrocken. »Und wie willst du der Karawane entkommen?«
Aliyat seufzte stoßweise, schaute wehmütig auf die in dem flachen, breiten Sehschlitz ruckende Ebene.
»Scharlach …«, brachte sie hilflos hervor.
»Was vermag der denn? Er ist jetzt allein, die Bande ist zerstreut, Schiffe hat er keine … Und selbst wenn er welche hätte!« Ar-Scharlachi hielt inne und betrachtete Aliyat mit Interesse. »Wie ich sehe, liebst du ihn sehr«, bemerkte er fast neidisch. »Man kann sagen, du hast dich für ihn geopfert …«
»Scharlach ist ein Mann …«, erwiderte Aliyat gleichmütig. In diesem Ton sagt man etwas Selbstverständliches.
»Und ich?«, fragte er unwillkürlich.
Aliyat warf den Kopf zurück und wollte wohl die nächste Grobheit sagen, als plötzlich etwas Verwirrung in ihren Blick drang. »Aus dir wird man nicht klug …«, gab sie widerwillig zu. »Vor dem Meer hast du keine Angst …«
Ar-Scharlachi lachte freudlos auf. »Wie kann man sich vor etwas fürchten, was es nicht gibt? Ob das nun der Tod ist, die Unsterblichkeit oder einfach viel Wasser – was macht das, wenn man ja doch nicht hingelangen kann …? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich wirklich einen Weg zum Meer finden werde?«
»Worauf hoffst du dann?«
Jetzt war Ar-Scharlachi an der Reihe, wehmütig zu werden. Um die Hoffnungen stand es gar zu schlecht.
»Ich warte, dass ein Rad abfällt«, warf er hin und erinnerte sich mit verspätetem Bedauern an den mitten auf dem Kurs liegenden Felsbrocken. Wenn er damals den Rudergängern den Befehl nicht gegeben hätte, hätten sie wirklich ein Rad in Klump gefahren …
»Bei allen Schiffen gleichzeitig?«
»Hör mal«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Was du auch vorhast, dein Komplize werde ich jedenfalls nicht. Du kannst mich für einen Feigling halten, einen Narren, einen Säufer, aber merk dir eins: Ich hasse Meuterei! Ich hasse Blutvergießen …! Ich träume von nichts anderem, als dass man mich in Ruhe lässt!«
Aliyat runzelte verständnislos die Brauen, betrachtete Ar-Scharlachi aufmerksam.
»Nein, du bist doch ein Dummkopf«, entschied sie schließlich bedauernd. »Wer wird dich denn jetzt in Ruhe lassen?«
Gegen Abend begannen unter den Rädern die weißen Dünen der Tschubarra zu knirschen. Der Wind legte sich. Rasch senkte sich die graue Dämmerung herab, und die Nacht brach an – eine unruhige Vollmondnacht, die die Menschen zu verzweifelten Werken und übereilten Taten treibt. Just in solchen Nächten gelingen die kühnsten Raubüberfälle und Palast revolten. Der böse Räubermond wird zur ideal runden Scheibe, und besonders deutlich sind auf ihr die Umrisse der Kamelstute zu sehen – der Mutter jener vier Kamele, auf denen die Vorfahren einst von den Vorbergen Harwas herabgekommen waren. Die Seelen der Treiber, die jetzt auf dem Mond wohnen, fliegen in solchen Nächten zur Erde, um die Ruhe ihrer Nachfahren zu stören, ihnen den Schlaf zu rauben, ihnen unvernünftige Vorhaben einzuflüstern … Und man kann den Vorfahren nicht erklären, dass sich die Zeiten geändert haben und dass das Wort »Raub« für einen Schüler des weisen Gojen keineswegs eine Heldentat bedeutet, sondern etwas ganz anderes.
In der Nacht darauf aber beginnt der Mond abzunehmen, und die Unruhe legt sich allmählich, die Seele wird klarer …
Der Karawanenführer war klug genug, dass er es nicht wagte, bei der nächtlichen Windstille im Schneckengang weiterzufahren – er
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