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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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Tod ihres Vaters. Sie hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Mit wem auch? Doch sie glaubte ganz fest, dass sie die Schuld, die jedes Kind seinen Eltern gegenüber hat, schon längst abgetragen hatte. Ihr Vater hatte sie großgezogen, aber seit mehr als siebzehn Jahren lebte sie ein Leben, das er zu verantworten hatte. Wann endlich erlöste er sie davon?
    Wäre sie statt seiner damals ins Gefängnis gegangen, dann wäre sie bei guter Führung wahrscheinlich schon entlassen worden, hätte ihre Strafe verbüßt. Wie lange sollte das noch so weitergehen?
    Sie wollte nicht mehr, und sie konnte nicht mehr. Sie hatte keine Kraft mehr. Aber sie musste durchhalten, so schwer es auch war.
    Was sollte sie Ralph sagen? Was nur, damit er von ihr abließ?
    »Ich habe mich mit Steve versöhnt«, hörte sie ihre eigene Stimme plötzlich. »Wir haben beschlossen, unsere Ehe noch einmal von vorn zu beginnen. Emilias wegen.«
    »Das glaube ich nicht«, widersprach Ralph. »Wir lieben uns, Amber.«
    »Nein«, antwortete Amber und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich habe mich getäuscht, Ralph. Unsere Nacht in Sydney war ein Versehen, ein Akt, um der Einsamkeit zu entkommen. Oder Dankbarkeit, weil du zu Jonah so nett warst. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich verheiratet bin und alles dafür tun muss, diese Ehe zu retten.«
    Sie hörte noch, dass Ralph etwas sagte, aber sie hatte den Hörer schon aufgelegt.
    Amber kuschelte sich tief in ihr Kissen, umschlang die Knie mit ihren Armen und wünschte sich, sie wäre tot.
    Die ganze Nacht dachte sie über ihre Lage nach, und je näher der Morgen kam, desto aussichtsloser erschien sie ihr. Als es Zeit war, aufzustehen, fühlte sich Amber so zerschlagen, dass sie es kaum schaffte, sich zu waschen und anzuziehen. Sie ging in die Küche, half Aluunda, das Frühstück vorzubereiten. Dann, als Emilia zur Schule und Steve in die Weinberge aufgebrochen waren, saß sie mit ihrem Vater allein im Wohnzimmer.
    Es war ihre Stunde. Die einzige Stunde des Tages, in der sie ein wenig Zeit für sich hatte. Sie las die Zeitung, danach unterhielt sie sich mit ihrem Vater. Heute aber konnte sie nicht mit ihm reden. Sie wusste, dass sie ungerecht war, aber sie war so ärgerlich auf ihn und auf das Schicksal, dass sie befürchtete, patzig zu sein. Nein, sie wollte ihren Vater nicht kränken. Sie verbarg ihr Gesicht hinter der Tanunda News und las, aber nicht eines der Worte drang bis in ihr Gedächtnis.
    Sie hörte Peena kommen und den Rollstuhl zur Tür rollen; sie hörte, wie ihr Vater wünschte, auf sein Zimmer gebracht und in Ruhe gelassen zu werden, doch sie reagierte nicht darauf. Sie hatte einfach keine Kraft mehr. Sein Verhalten war ungewöhnlich. Noch nie hatte er darum gebeten, nach dem Frühstück auf sein Zimmer gebracht zu werden, aber Amber konnte sich nicht einmal aufraffen, ihn nach dem Grund zu fragen. Sie hielt sich an ihrer Zeitung fest, als böte sie Schutz vor dem Leben.
    Eine ganze Weile saß sie still, bewegte sich auch nicht, als Aluunda das Geschirr abräumte. Sie starrte auf die Buchstaben, ohne sie lesen zu können.
    Amber dachte nichts. Ihr Kopf war vollkommen leer. Alles in ihr war leer. Sie war wie eine Maschine, die seit Jahren auf Knopfdruck reibungslos gearbeitet hatte, doch seit dem Gespräch mit Ralph in der Nacht war etwas kaputtgegangen. Amber funktionierte nicht mehr. Sie saß einfach nur da, atmete ein und atmete aus. Mehr nicht.
    Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Von draußen hörte sie die Stimmen von Aluunda und Peena, die Wäsche aufhängten. Auch Saleem schien in der Nähe zu sein, Amber konnte sein tiefes, dunkles Lachen hören.
    Im Haus war es ganz still. Nur die alte Pendeluhr gab bei jedem Schlag ein leises Klicken von sich. Plötzlich hörte Amber ein lautes Geräusch. Als wäre jemand aus dem Bett gefallen oder die Treppe heruntergestürzt. Sie sah zur Wand und seufzte tief. Das Zimmer neben dem kleinen Speisezimmer gehörte Walter. Er musste das Geräusch verursacht haben.
    Amber blieb sitzen. Sie war so leer, dass sie sich mit aller Anstrengung ins Gedächtnis rufen musste, wie man in einem solchen Fall reagiert.
    Du musst aufstehen, sagte ihr Hirn. Du musst nachsehen, was geschehen ist.
    Amber legte die Zeitung auf den Tisch und stützte die Hände auf die Armlehnen, doch sie schaffte es nicht, sich zu erheben. Noch immer dachte sie nichts. Ihr Kopf gab ihr Befehle, die ihr Körper nicht ausführen konnte.
    Ich

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