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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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sollte nach Peena rufen, dachte sie, doch ihr Mund blieb verschlossen.
    Ich sollte nach ihm sehen, dachte sie, doch ihre Füße bewegten sich nicht von der Stelle.
    Er würde rufen, wenn er Hilfe braucht, versuchte sie sich zu beruhigen, doch die Stille war beunruhigend. Mit aller Kraft stemmte sich Amber aus dem Sessel. Langsam verließ sie den Frühstücksraum und schleppte sich den Gang entlang. Sie klopfte an die Tür ihres Vaters, doch er antwortete nicht.
    Es kostete sie viel Überwindung, die Tür zu öffnen. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Angst, das zu sehen, was sie sich am meisten wünschte. Und Angst, es nicht zu sehen.
    Ganz langsam drückte sie Klinke herunter, doch dann stieß sie die Tür heftig auf.
    Als sie ihren Vater sah, schrie sie auf. Plötzlich funktionierte sie wieder. Sie stürzte neben das Bett, barg den Kopf ihres Vaters in ihrem Schoß. Dann erst sah sie das Blut. Es rann aus den Handgelenken ihres Vaters. Ein stiller, warmer Strom, der auf ihr Kleid tropfte.
    »Was hast du getan?«, flüsterte sie. »Vater, was hast du getan?«
    »Ich kann nicht länger ertragen, dass du wegen mir leidest. Ich habe so oft schon nach dem Tod gerufen, doch er erhört mich nicht. Ich wollte meinem Leben ein Ende machen, damit du frei bist.«
    »Nein, Vater, sprich nicht so! Ich brauche dich doch. Du darfst nicht sterben.« Amber beschwor ihren Vater. Ihr Gesicht war kalkweiß, sie spürte das Zittern ihres Körpers. Es war so heftig wie ein Schüttelfrost.
    Sie schob ihrem Vater vorsichtig ein Kissen unter den Kopf.
    »Ich rufe den Doktor«, sagte sie. »Ich rufe Aluunda, Peena, Steve. Sie müssen alle kommen. Sie müssen etwas tun. Du darfst nicht sterben, Papa.«
    Sie kam nicht auf den Gedanken, Stoff in Streifen zu reißen und sie um seine Handgelenke zu binden. Sie kam nicht auf den Gedanken, das Telefon auf seinem Nachttisch zu benutzen. Sie kam auch nicht auf den Gedanken, das Fenster zu öffnen und nach den anderen zu rufen. Kopflos lief sie im Zimmer herum, wie gelähmt durch die Schuld, die sie zu haben glaubte. »Du darfst nicht sterben. Du darfst nicht sterben. Du darfst nicht sterben.«
    »Ich bin müde, Kind«, flüsterte ihr Vater kraftlos. »Lass mich gehen, lass mich zu deiner Mutter. Es ist für uns alle das Beste.«
    Plötzlich verlor Amber die Nerven. Sie schlug sich die Hände vor die Ohren, um nichts zu hören, doch gleichzeitig schrie sie, so laut sie nur konnte. Amber schrie, schrie, schrie. Sie konnte nicht aufhören. Sie schrie, als wäre es das Einzige, was sie noch tun konnte.
    Dann hörte sie Schritte, die den Gang entlangrannten, sie hörte Aluunda und Peena zur Tür hereinkommen. Sie sah, wie Peena zu Walter stürzte, das Bettlaken in Stücke riss und dem Mann die Gelenke verband. Sie sah Aluunda, die zum Telefon ging, doch sie sah das alles wie einen Film, der mit ihr nichts zu tun hatte. Sie schrie und schrie. Sie schrie, bis Saleem kam und ihr so kräftig ins Gesicht schlug, dass sie nach Luft schnappen musste. Dann spürte sie nichts mehr.
    Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett und fühlte sich benommen. Trotzdem wusste sie genau, was geschehen war.
    »Wie geht es meinem Vater?«, fragte sie Margaret, die neben ihr saß und ihr einen kühlen Essiglappen auf die Stirn legte.
    »Es geht ihm gut. Er wird durchkommen. Ralph sagt, er kann übermorgen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Ach, was rede ich da. Es geht ihm nicht gut. Er wollte sterben, und er wurde daran gehindert. Wie soll es ihm da gehen?«
    Margaret seufzte. »Sei ihm nicht böse, Kind«, sagte sie und ließ offen, was sie damit meinte. »Er hat immer nur das Beste für dich und die Kinder gewollt.«

Vierter Teil
    _____________

20
    In den fünf Jahren, die seit dem Selbstmordversuch von Walter Jordan vergangen waren, hatte Steve alle Zügel fahren lassen. Beinahe jeden Monat fuhr er nach Adelaide, um sich dort im Spielcasino zu amüsieren. Peena betreute mit stets gleich bleibender Freundlichkeit Walter, doch Amber sah ihr an, dass ihr inzwischen klar geworden war, dass ein Mann wie Steve nicht auf Dauer zum zärtlichen Liebhaber geeignet war. Im Supermarkt in Tanunda tuschelte man seit einiger Zeit darüber, dass er wieder ins Bordell ging. In einem Pub, der in einer Seitenstraße lag, hatte er sogar Hausverbot, weil er einen Schwarzen, der nur gekommen war, um die fehlgeleitete Post abzugeben, zur Tür hinausgeprügelt hatte. Um Emilia kümmerte er sich zwar noch, aber nicht so, dass es Amber

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