Unter dem Teebaum
wie eingefroren. Die Lippen waren blutleer.
Amber sah es. Er stirbt, dachte sie.
Sie beugte sich über ihn, küsste ihm die kalte Stirn. »Geh in Frieden, Vater. Gott schütze dich«, sagte sie. Noch einmal hob er die Lider und sah sie an. In seinem Blick lag Erleichterung. Dann schloss er die Augen, tat einen letzten Atemzug und starb.
Lange blieb Amber neben ihm sitzen. Sein Gesicht war entspannt und friedlich, die Mundwinkel umspielte ein leises Lächeln.
Sie blieb, bis sein Körper langsam kalt wurde und der Morgen hinter den Hügeln erwachte.
Dann ging sie ins Badezimmer und duschte mit kaltem Wasser. Sie seifte sich ein und schrubbte sich ab, als wollte sie sich die Vergangenheit aus der Haut reiben.
Noch ehe die anderen erwachten, rief sie Ralph Lorenz an.
»Vater ist gestorben«, sagte sie. »Kannst du kommen und den Totenschein ausstellen?«
»Ich dachte, ich bin auf Carolina Cellar nicht mehr gern gesehen.«
»Ab heute ist das anders. Ab heute wird auf dem Gut das geschehen, was ich für richtig halte. Und ich möchte dich gern sehen.« Sie räusperte sich und fügte leise hinzu: »Nicht nur wegen des Totenscheins. Ich habe dich vermisst, Ralph.«
»Ich komme«, war alles, was der Arzt darauf erwiderte.
Eine halbe Stunde später kam sein roter Toyota die Auffahrt herauf.
Amber stand in der Küche und hatte Aluunda gerade vom Tod des alten Masters berichtet. Aluunda nickte. »Es ist gut, dass er jetzt bei den Ahnen ist, Amber«, sagte sie. »Schon lange habe ich gesehen, dass das Leben eine Qual für ihn war. Seit über zwanzig Jahren schon. Manchmal dachte ich, dass er schon viel früher zu den Ahnen gehen wollte, doch er blieb auch, um dich nicht allein zu lassen.«
Sie legte eine Hand auf Ambers Arm. »Man kann jedem Menschen am Ende seines Lebens einiges vorwerfen. Auch dem Master Walter. Er hat gelitten. Mehr, als die meisten anderen Menschen in einem Leben leiden müssen. Er war ein guter Master, Amber. Er hat in seinem Leben vielleicht Schlechtes getan, aber auch sehr viel Gutes.«
Amber nickte. »Ich weiß«, sagte sie. »Und ich habe ihm nicht helfen können.«
»Niemand konnte ihm helfen.«
Aluunda hielt den Kopf schief und lauschte auf die Geräusche im Haus. Als sie sicher war, dass alles ruhig war, trat sie einen Schritt näher an Amber und raunte: »Ich weiß viel über die schlimmste Nacht seines Lebens, aber ich weiß nicht alles. Es kann gut sein, dass es anders war, als der Master und du geglaubt haben.«
Amber zog die Stirn in Falten. »Was willst du damit sagen?«
Die alte Frau hob die Schultern: »Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Das will ich sagen. Nicht mehr und nicht weniger.«
Amber hätte gern über diesen Satz nachgedacht oder zumindest versucht, noch einige Äußerungen aus Aluunda herauszuholen, doch in diesem Augenblick kam Ralph Lorenz herein. Er ging zu Amber, nahm sie kurz in den Arm und bekundete sein Beileid.
»Wie geht es dir?«, fragte er dann.
»Du bist nicht meinetwegen hier«, erwiderte Amber. »Es geht um meinen Vater.«
»Für ihn kann ich nichts mehr tun. Aber vielleicht brauchst du meine Hilfe«, sagte er und sah sie aufmerksam an. »Du siehst müde aus.«
»Ich war die ganze Nacht bei ihm. Mir fehlt Schlaf, sonst nichts. Jetzt lass uns nach oben gehen.«
Sie fasste ihn am Ellenbogen und zog ihn aus der Küche. Amber war durcheinander. Buchstäblich über Nacht hatte sich ihr Leben verändert. Sie war jetzt frei. Aber im Augenblick konnte sie noch nicht ermessen, was diese Freiheit bedeutete, was sich damit anstellen ließ. Es musste so viel getan werden: Sie musste ein Begräbnis organisieren; sie musste Freunde und Bekannte informieren und so fort. Das Gut durfte dabei nicht zu kurz kommen.
Amber zögerte vor der Tür einen kurzen Moment, als hätte sie Furcht, der Leichnam wäre ihr so fremd, dass sie ihn nicht mit der Erinnerung an ihren Vater in Übereinstimmung bringen könnte. Doch dann stieß sie die Tür auf.
Und wirklich: Aus ihrem Vater war innerhalb kürzester Zeit ein Ding, eine Sache geworden. Das starre Gesicht hatte wohl Ähnlichkeit mit ihm, doch er war es nicht mehr.
Ralph fühlte den Puls, leuchtete mit einer Taschenlampe in seine Pupillen, dann versuchte er den Puls zu fühlen.
»Er ist tot«, erklärte er dann. »Ich werde den Totenschein ausstellen.«
Amber nickte. Ja, es war richtig und notwendig, sich bestätigen zu lassen, dass es einen Menschen plötzlich nicht mehr gab. Vielleicht waren es die
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