Unter dem Teebaum
ich.«
Dann griff er nach drei kleinen Päckchen, die Peena ihm schon vor Tagen eingewickelt und ordentlich in der Seitentasche des Rollstuhls verstaut hatte. Eines gab er Emilia: »Dies ist der Ring, den deine Großmutter zu ihrer Hochzeit von mir geschenkt bekam. Trage ihn erst, wenn ich nicht mehr bin.«
Dann gab er Jonah das zweite Päckchen. »Hier ist meine Taschenuhr. Sie stammt noch aus Europa, aus der Schweiz. Sie ist altmodisch, ich weiß, aber vielleicht kannst du sie trotzdem brauchen.«
Zum Schluss übergab er Amber das dritte Päckchen. Er sagte kein Wort dazu, sondern sah seine Tochter nur an. Es war ein Blick voller Liebe und Wehmut, aber ohne Angst.
Dann schloss Walter die Augen. »Ich bin sehr müde und möchte gern schlafen gehen.«
Die Kinder standen auf. Unsicher sahen sie ihre Mutter an. Sollten sie sich von ihrem Großvater mit einem einfachen »Gute Nacht« verabschieden? Was sollten sie sagen? Konnte es sein, dass sie ihn hier zum letzten Mal sahen?
Emilia war es, die die richtigen Worte fand: »Gott schütze dich, Großvater«, sagte sie und küsste ihn auf beide Wangen.
»Die Ahnen werden immer bei dir sein«, sagte Jonah und küsste seinen Großvater ebenfalls auf beide Wangen.
Dann schob Amber den Rollstuhl aus dem Zimmer.
Sie saß die ganze Nacht am Bett ihres Vaters, und beide warteten geduldig auf den Tod. Sie sprachen nicht viel dabei. Es war eher so, als säßen sie auf einem Bahnsteig und warteten auf einen Zug. Auf Bahnsteigen wird nicht viel geredet.
Amber und ihr Vater hatten sich alles gesagt. Nur über eines hatten sie nicht gesprochen: Über den leisen Zorn, der seit Jahren an Amber nagte. Sie war ihrem Vater dankbar für alles, was er für sie getan hatte. Doch auch sie hatte viel für ihren Vater getan. Mehr als die meisten Töchter.
»Amber?«
Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Ja, Vater. Was ist?«
»Ich war dir der denkbar schlechteste Vater.«
Amber schwieg und wartete, dass er weitersprach.
»Ich habe dir dein Leben verdorben. Die Schuld an Jonahs Tod hast du abgetragen.«
»Ich weiß, Vater. Aber es gab wohl keine andere Lösung. Es ist unsinnig, jetzt darüber zu sprechen. Es gibt nichts, was wir noch ändern könnten.«
»Ich möchte gern mit dir darüber sprechen. Ich möchte mit dieser Schuld nicht vor meinen Schöpfer treten. Ich war sehr egoistisch«, sprach Walter weiter. »Ich habe nicht nur Jonah das Leben genommen, sondern auch dir. Ich habe zwei Menschen auf dem Gewissen. An Jonahs Tod kann ich mich nicht erinnern. Amber, ich weiß wirklich nicht, auf welche Art ich ihn getötet habe. Ich weiß nur – und das so klar wie damals –, dass ich mich mit einer Axt in der Hand auf dem Boden wiederfand. Ich kann mich nicht erinnern, ausgeholt zu haben, kann mich nicht erinnern, überhaupt die Hand gegen Jonah erhoben zu haben. Doch das ist gleichgültig. Nur das Ergebnis zählt: ein toter Mensch. Anstatt es bei dem einen Toten zu belassen, ließ ich jedoch zu, dass auch dein Leben zerstört wurde. Ich war so feige, Amber. Ich hätte mich bekennen müssen. Aber ich tat es nicht. Ich hatte Angst vor dem Gefängnis, Angst vor den Leuten. Aus Angst habe ich dein Leben verdorben. Das ist nicht zu verzeihen. Du brauchst es gar nicht zu versuchen. Ich habe zwei Menschen auf dem Gewissen. Heute sage ich dir, wie sehr ich es bereue. Heute Nacht offenbare ich dir meine Feigheit, meine Angst und meinen grenzenlosen Egoismus.«
Amber war berührt. Endlich hatte er gesagt, was sie ihm schon lange heimlich vorgeworfen hatte.
»In dem Päckchen, das ich dir vorhin gab, ist mein Geständnis. Übergib es der Polizei, wenn du willst. Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Gefängnis, ich fürchte mich nur noch vor meinem eigenen Gewissen. Außerdem ist mein Testament darin. Steve erbt nichts. Carolina Cellar gehört dir. Ich bin ihm nichts schuldig. Du hast meine Schuld abgetragen.«
Er griff nach ihrer Hand. »Wenn du willst, verkauf das Gut. Fang woanders ein neues Leben an. Geh mit Ralph Lorenz nach Adelaide oder wohin du willst. Ich weiß seit Langem, dass du ihn liebst.«
Amber schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät, Vater. Ich kann mein Leben nicht neu beginnen. Vor zwanzig, vor zehn, ja vielleicht sogar noch vor fünf Jahren wäre dies möglich gewesen. Nun ist es vorbei. Ich habe keine Kraft mehr für einen Neuanfang.«
Walters Gesicht veränderte sich plötzlich. Seine Augen wurden trübe, seine Haut gelblich weiß. Die Gesichtszüge wirkten
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