Unter dem Teebaum
von ihm. Vergebens. Es war nicht merkwürdig, dass einer der Aborigines plötzlich nicht mehr da war. Aber merkwürdig war es, dass sowohl Walter Jordan als auch Orynanga vorgaben, nichts über seinen Verbleib zu wissen.
Auch Aluunda und Saleem schwiegen.
»Er ist ein Eingeborener, von Natur aus ruhelos. Sei froh, Amber, dass er jetzt verschwunden ist. Die Aborigines eignen sich nicht für ein Familienleben, wie die Weißen es führen«, war alles, was ihr Vater zu Jonahs Verschwinden zu sagen hatte. Amber traute ihm nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben misstraute sie ihrem Vater. Sie ahnte, dass er etwas mit Jonahs Verschwinden zu tun hatte.
»Er ist alt genug, um seinen Traumpfad zu gehen«, hatte Orynanga erklärt. »Er wird im Outback sein und sich eine Frau suchen. Alle Aborigines im mannsfähigen Alter tun das. Sie müssen das tun, um Männer zu werden. Hinterher wissen viele nicht mehr, was sie bis zu diesem Tag erlebt haben.«
Amber wusste, dass Orynanga log. Sie wusste, dass er ihr das nur erzählt hatte, um sie glauben zu machen, Jonah würde sie bald schon vergessen haben. Es war möglich, dass Jonah auf dem Traumpfad war, doch nicht, um sich eine Frau zu suchen. Niemals wäre er ohne ein Wort fortgegangen.
»Ihr lügt mich an! Ihr habt ihn fortgeschickt! Ihr wisst genau, wo er ist!«, warf sie ihrem Vater vor.
»Es gibt viele junge Männer hier«, hatte Walter sie zu trösten versucht. »Sieh dich um, und du wirst sehen, dass einige darunter sind, die dich glücklich machen können. Und glaub mir, ich denke dabei nicht an Steve Emslie.«
Amber erwiderte nichts. Sie wusste, dass alle logen, wusste, dass Jonah weggeschickt worden war, damit die Liebe in Vergessenheit geriet. Sie war wütend über diese Einmischung in ihr Leben, war wütend auf die, die es »gut« mit ihr meinten, sie aber nicht fragten. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie konnte gar nichts tun. Nur warten …
»Kommt er wieder, Aluunda?«, fragte sie ihre Kinderfrau. Die Alte zuckte mit den Schultern und sah Amber mitleidig an. »Es wäre besser für alle, er bliebe weg.«
»Warum? Warum weiß jeder, was das Beste ist? Warum fragt man uns nicht? Wie kommt ihr dazu, euch in unser Leben einzumischen?«, brauste Amber auf und konnte doch die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie fühlte sich verraten und betrogen, und ihr Inneres krampfte sich zusammen, sobald sie daran dachte. Und sie dachte an nichts anderes als an Jonah.
»Schwarz und Weiß gehen nicht zusammen, Amber.«
»Aber in den großen Städten …«
»In den großen Städten«, unterbrach Aluunda, »ist manches möglich, das hier auf dem Land nicht geht. Dort kümmert sich niemand um seine Nachbarn. Den Menschen dort fehlt die Gemeinschaft. Deshalb trinken sie und mischen sich untereinander. Es ist die Einsamkeit, die sie dazu treibt, nicht die Liebe.«
»Jonah und ich waren nicht einsam. Wir lieben uns. Warum kann das niemand verstehen?«
Aluunda ließ den Löffel, mit dem sie in einem Kessel rührte, fahren, wischte sich die Hände an ihrem Bauchtuch ab und wandte sich Amber zu, die am Küchentisch saß und lustlos auf ihr Frühstück blickte.
»Du hältst an einer Liebe fest, die sich nicht leben lässt«, sagte Aluunda, und ihr Ton klang streng dabei. »Es liegt auf der Hand, dass diese Liebe Schaden bringt. Schaden für das Gut, für deinen Vater, für alle, die hier leben. Niemand wird hier mehr kaufen, die Arbeiter verlieren ihre Jobs, die Trauben vertrocknen an den Hängen, und wir müssen in eine Mission oder zurück in den Busch.
Schaden gäbe es auch für die Eingeborenen, die sich plötzlich von einem der ihren befehlen lassen müssten. Alles geriete durcheinander. Du aber denkst nur an dich und dein Glück. Es ist dir gleichgültig, was mit uns anderen geschieht. Einer Liebe aber, die egoistisch macht und dazu führt, alles andere rings um sich zu vergessen, ist auf Dauer kein Glück beschieden.«
Nach dieser Rede wandte sie sich wieder ihrem Kochtopf zu und überließ Amber ihren Gedanken.
Amber schwieg seither, sprach mit keinem Wort, mit keiner Geste und keinem Blick über ihren Kummer. Doch ihr Inneres wartete, wartete auf ein Zeichen von Jonah.
Das alljährliche Weinfest fand im April statt. Bei den meisten Winzern war die Lese bereits abgeschlossen. Auch auf Jordans Gut trugen nur noch wenige Stöcke Trauben. Es war Ambers Wunsch gewesen, die Lese hier noch ein wenig zu verzögern. Sie hoffte, dass die Trauben an Süße gewinnen
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