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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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Worte, die sie sagte: »Bald ist alles gut, Jonah. Bald sind wir zusammen. Dann kann niemand mehr kommen und uns auseinanderreißen. Bald ist alles gut.«
    Sie setzte sich, zog den toten Leib auf ihren Schoß, wiegte ihn hin und her und sang dabei ein Schlaflied, das sie bei den Aborigines oft gehört und das Aluunda ihr so ähnlich als Kind vorgesungen hatte.
    Walter Jordan sah zu Amber und schlug die Hände vor das Gesicht. »Oh, mein Gott, was habe ich nur getan!«, flüsterte er.
    Amber hielt den toten Jonah noch immer. Sie klammerte sich an ihn, sprach mit ihm, kniete neben der Grube und hielt seine Hand, als könne sie noch irgendetwas lindern.
    Steve zog sie schließlich weg und bedeckte das heimliche Grab mit Erde und Weinlaub.
    Walter ging zu seiner Tochter, die auf dem Boden saß und noch immer das Schlaflied sang. Er zog sie hoch, zog sie in seine Arme.
    »Es tut mir leid«, sagte er und drückte damit noch lange nicht aus, was wirklich in ihm vorging. Gab es überhaupt Worte dafür?
    Amber erwiderte nichts. Sie hing mehr tot als lebendig in seinen Armen, summte noch immer das Schlaflied. Sie bemerkte nicht einmal die Tränen, die ihrem Vater über das Gesicht liefen.
    Und sie bemerkte auch Orynanga nicht, der ganz in der Nähe stand und einen weißen Knochen in der Hand hielt. Es war der Knochen der Rache, der schlimmste Fluch der Aborigines. Ein jeder, auf den der weiße Knochen zeigte, war des Todes. Innerhalb weniger Tage starb er. Jeder im ganzen Land fürchtete nichts mehr als den Knochen der Aborigines. Es gab kein Entkommen. Doch solange das Gut Carolina Cellar bestand, solange die Aborigines darauf wohnten, war der Knochen noch nie auf einen Menschen gerichtet worden. Heute aber war es so weit. Der Fluch der Aborigines war geweckt und hatte den Tod zur Folge.
    Orynanga schloss die Augen und rief lautlos seine Ahnen an. Er rief die Regenbogenschlange, die Mutter allen Seins, rief den Damala-Ahnen, das Sinnbild seines Totems, dann hob er den Arm, doch im selben Augenblick kam der Hund gerannt, sprang direkt in die Bahn des Fluches. Und plötzlich war der alte Aborigine wie vom Erdboden verschluckt.

7
    In der Nacht träumte Amber von Jonah. Sie waren in der Jagdhütte, und sie waren nackt. Jonah kniete zwischen Ambers gespreizten Beinen. Doch er kniete dort nicht wie ein Mann, und sie erwartete ihn nicht wie eine Frau. Es war eher so, als hätte sie ihn gerade geboren oder zu seinem Schutz vor ihrem Schoß platziert. An der Quelle des Lebens.
    Sie sah ihn an, aber plötzlich veränderte er sich vor ihren Augen. Aus dem jungen Mann mit den von keinem Unheil getrübten blanken Augen, der festen Haut, dem straffen schlanken Leib und dem vollen dunklen Haar wurde ein alter Mann. Zuerst ergraute sein Haar, stand vom Kopf ab, wuchs aus den Ohren, aus den Nasenlöchern. Dann verlor die Haut ihre Straffheit. Er beugte sich über sie, und Amber sah das fallende, hängende, großporige Fleisch seiner Wangen, die sein Gesicht veränderten und ihm den Ausdruck der Stärke nahmen. Seine Lippen kräuselten sich wie Blütenblätter, die von Ungeziefer befallen waren. Der Hals zog sich in Falten, an der Kehle bildete sich eine Haut, die an gerupfte Hühner erinnerte. Seine Brust begann zu wachsen und zugleich zu welken. Schlaffe Altmännerbrüste mit dunklen, harten Warzen, die wie leere Tüten nach unten fielen. Die Muskeln, die seinen Leib gestrafft hatten, verschwanden und machten schlaffer, lederiger Haut Platz.
    Jonah lächelte, und während des Lächelns wurden seine Zähne gelb und fielen aus, bis nur noch ein roter, entzündeter Zahnfleischrand zu sehen war. Seine Ohren wuchsen, die Nasenlöcher weiteten sich, die Hände wurden zu Krallen.
    Amber sah ihn an, und ihr Gesicht blieb unberührt von Jonahs Verfall. Sie sah ihn mit den Augen der Liebenden, die nicht anders konnte, als Jonah schön zu finden. Immer und in jedem Zustand. Sie wollte nach ihm greifen, ihm die schlaffen Wangen streicheln, an den welken Altmännerbrüsten saugen, ihm die Ohren kraulen, doch ihre Hand erreichte ihn nicht.
    Ein Abstand, eine Grenze, die sich kalt und glatt wie Glas anfühlte, stand zwischen ihnen. Sosehr sie sich auch bemühte, sie erreichte ihn nicht. Jonah musste allein altern, allein sterben. Und sie war allein jung und wartete allein auf das Alter und den Tod.
    Der Wind, der die hölzernen Läden gegen das Fenster schlug, weckte sie. Plopp … plopp … plopp, der immer gleiche Rhythmus. Wie bei einem

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