Unter dem Teebaum
Totentanz.
Dachte sie dies, weil alles, was jetzt um sie herum geschah, mit dem Tod in Verbindung stand?
Sie wusste es nicht. Langsam erhob sie sich aus dem Bett, ganz vorsichtig bewegte sie sich, als fürchtete und hoffte sie zugleich, ihre Knochen wären aus Glas und würden bei der geringsten Belastung zersplittern.
Der Traum kam ihr in Erinnerung, doch die Erinnerung an den gestrigen Tag hatte sich noch nicht sehr tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Nur ein Gefühl war da, ein Gefühl des Grauens und der uferlosen Einsamkeit. Amber sah Jonah vor sich als alten Mann. Sie stand neben dem Bett, drückte eine Hand ins Kreuz, als hätte sie Schmerzen oder wäre vom Leben so gebeugt, dass der aufrechte Gang ohne Anstrengung nicht mehr möglich war. Wie eine alte Frau schlurfte sie zum Spiegel und erwartete, darin das Bild einer alten Frau zu sehen.
Sie sah das Gesicht, das sie kannte. Sie sah genauso aus wie gestern. Vielleicht waren die Augenschatten ein wenig dunkler, ansonsten war alles wie immer.
Amber schüttelte den Kopf. In der Nacht waren ihre Träume zerbrochen, war ihre Zukunft gestorben, ihre Liebe ausgelöscht worden. Alles, was ihr wichtig gewesen war, hatte sich verändert. Nur sie nicht. Nicht ihr Spiegelbild.
Hass stieg in ihr auf. Hass auf das Spiegelbild, das sie zu verhöhnen schien. Gab es so etwas? Konnte man das Spiegelbild hassen? Ja, so war es. Amber hasste ihr Gesicht im Spiegel. Sie hatte erwartet, dass ihr Haar über Nacht ergraut wäre. Wenigstens das. Es hätte sie getröstet. Aber ihr Haar war braun und glänzend geblieben.
Das Spiegelbild kam ihr wie eine Lüge vor, eine himmelschreiende Gemeinheit, eine grausame Verspottung.
Sie nahm einen Kerzenleuchter aus Messing von einer kleinen Schleiflackkommode und warf ihn nach ihrem Bild. Sie schloss die Augen dabei und zuckte unter dem Aufprall zusammen. Amber hatte erwartet, dass sie Schmerzen empfinden würde, wenn ihr Spiegelbild in Scherben sprang, doch sie spürte nichts. Sie sehnte sich nach dem Schmerz. Der Schmerz wäre ihr ein Trost gewesen, ein Ausdruck dessen, was sie noch immer nicht begriffen hatte. Der Schmerz wäre ihr ein Gefährte gewesen. Aber selbst der Schmerz hatte sie verlassen. Sie war leer. Ohne Gedanken, ohne Gefühle, ohne Sinn. Amber öffnete die Augen. Ihre Sehnsucht nach dem Schmerz war so groß, dass sie zum Spiegel trat und mit der bloßen Faust in den letzten Rest unzerbrochenes Glas schlug. Blut quoll aus mehreren Wunden. Über ihren Handballen zog sich ein tiefer Riss. Doch Amber spürte noch immer nichts. Ihr war nur ein wenig übel. Sie trat einen Schritt zurück, sah auf ihre Hand, von der das Blut auf den Boden tropfte. Sie war nicht fähig, irgendetwas zu tun, weil ihr einfach nicht einfallen wollte, was zu tun wäre.
Plötzlich erklangen Schritte, jemand klopfte an ihre Tür, rief ihren Namen. Dann stand Aluunda im Raum. Sie sah auf Ambers Hand, griff nach dem Tuch, das sie sich um den Bauch gebunden hatte, und riss es in Streifen. Sie sprach kein Wort dabei, nahm einfach nur Ambers Hand, suchte nach Glassplittern in den Wunden und wickelte die Stoffstreifen um ihre Hand.
Dann zog sie Amber an ihre warmen, weichen, großen Brüste und wiegte sie hin und her. »Du bist noch so jung«, murmelte sie. »Ich beneide dich nicht um deine Jugend. Du hast noch so viele schreckliche Erfahrungen vor dir.«
»Und ich«, schluchzte Amber, »bedauere dich um dein Alter. Deine Augen haben schon alles Schlechte gesehen.«
Sie hielten einander fest, die eine gefangen in ihrer einsamen Jugend, die andere gefangen im einsamen Alter.
Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Aluunda Amber bewegen konnte, zum Frühstück hinunterzugehen. Als Amber ihren Vater sah, seine gebeugten Schultern und sein Haar, das ihm über Nacht grau geworden war, fiel ihr wieder ein, dass er es war, der Jonah getötet hatte.
Das »Guten Morgen« blieb ihr im Hals stecken. Sie suchte in sich nach Worten, aber sie fand keine. Was sollte sie dem Mann sagen, der ihren Liebsten getötet hatte und doch das Einzige war, das sie auf der Welt noch besaß? Nein, sie wünschte nicht, dass sein Morgen ein guter Morgen sein würde.
Langsam und mit schweren Schritten ging sie näher, setzte sich ihm gegenüber. Er sah sie an, als wäre er es, der das Liebste verloren hatte. Seine Augen waren ohne Glanz mit roten Rändern und schwarzen Schatten. Er wirkte, als hätte er über Nacht sämtliche Spannkraft verloren, ja, er wirkte wie der alte Jonah
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