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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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aus Ambers Traum. Er sah sie an und wartete auf ein Wort, doch es gab kein Wort.
    Schließlich senkte er den Blick, griff über den Tisch nach ihrer Hand und hielt sie. »Amber«, murmelte er. Nur dieses eine Wort.
    Amber hätte »Ja, Vater« oder nur »Vater« sagen müssen, doch dieses Wort gab es nicht mehr für sie. Sie ließ ihm die Hand. Lange saßen sie schweigend, dann sah der ergraute Mann seine Tochter an. »Ich wollte es nicht. Könnte ich ihn aufwecken und mein Leben dafür geben, bei Gott, ich täte es.«
    Sie sah ihn an, fand in der Leere seiner Augen den Vater wieder. Sie glaubte ihm. Bei Gott ja, sie glaubte ihm. Doch was nützte das? Jonah blieb tot.
    Die Tür ging auf, und Steve Emslie kam herein. Er blieb auf der Schwelle stehen und sah fragend von Walter Jordan zu Amber und zurück.
    »Was gibt es?«, fragte der Gutsbesitzer. Es war ihm anzumerken, dass er froh war über die Störung.
    »Ähem«, räusperte sich Steve und hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden.
    Amber schien es, als wären die Worte mit Jonah ins Grab gesunken. Ein jeder hatte die Sprache verloren, vermochte nicht mehr, sich auszudrücken, sich einem anderen verständlich zu machen.
    Was für ein Unglück, dachte sie, doch sie hatte zu diesen, ihren eigenen Gedanken, einen großen Abstand. Was für ein Unglück, wenn die Worte verloren gehen und keiner mehr den anderen versteht.
    »Wir … wir … sollten wohl nach den Stöcken sehen«, stotterte Emslie und fügte leise hinzu: »Das Leben muss weitergehen. Am besten wäre es, wir würden den gestrigen Abend vergessen. Niemand darf etwas merken. Wir sollten einfach weitermachen wie immer. So tun, als wäre nichts geschehen.«
    Walter Jordan seufzte: »Keiner von uns wird vergessen, was gestern geschehen ist.« Dann fragte er: »Wo sind die Aborigines? Es ist ihre Aufgabe, nach den Stöcken zu sehen.«
    Steve Emslie zog die Schultern hoch und breitete die Arme aus. »Sie sind weg. Alle. Die Feuerstellen sind kalt, die Hütten verlassen.«
    Walter Jordan nickte. »Ja. Ich dachte es mir.«
    Er sah noch bekümmerter aus, und Amber erinnerte sich an einen Glauben der Eingeborenen, der besagte, dass böse Geister dort lebten, wo einer der ihren gewaltsam zu Tode gekommen war.
    »Sie wissen es«, sagte sie.
    Walter Jordan nickte. »Sie wissen es immer. Selbst Aluunda und Saleem wissen alles, obwohl sie nicht dabei gewesen sind.«
    Dann erhob er sich schwer vom Tisch. »Kommst du mit, Amber?«, fragte er, doch sie schüttelte nur den Kopf.
    Als Aluunda das Frühstücksgeschirr abgeräumt hatte, ging Amber zu ihr in die Küche. »Ich würde gern einen Teebaum pflanzen«, sagte sie. »Woher bekomme ich Samen oder eine junge Pflanze?«
    »Einen Teebaum? Warum?«
    Amber lächelte ein so trauriges Lächeln, dass Aluundas Herz im Leib zu weinen begann.
    »Ihr Eingeborenen sagt ›Schnee im Sommer‹ zu den Teebäumen, nicht wahr?«
    »Ja«, erwiderte Aluunda. »Schnee im Sommer. Wir nennen sie so, weil sie im Sommer ganz mit weißen Blüten bedeckt sind und aussehen, als trügen sie die schwere Last des Schnees. Hier in der Gegend gibt es viele Damalas, die sich nur zu gern auf den Teebäumen ihre Nester bauen.«
    »Schnee im Sommer«, wiederholte Amber. »Wenn im Sommer Schnee fällt, sterben viele Pflanzen und Tiere. Schnee im Sommer bedeutet Tod.«
    Aluunda sah Amber nachdenklich an. Sie hielt ein Geschirrtuch in der Hand und wischte damit ein ums andere Mal über die Spüle.
    »Ich werde dir einen Setzling bringen«, sagte sie. »Ich muss sowieso nach Tanunda. Vielleicht kommst du mit?«
    Sie hatten nicht ein einziges Wort über die Geschehnisse der letzten Nacht, über Jonahs Tod gesprochen.
    Doch Amber war klar, dass Aluunda und auch Saleem Bescheid wussten.
    Niemand wusste, woher, doch es war so.
    Amber schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte lieber hier bleiben«, sagte sie. Dann ging sie langsam hinaus aus dem Haus und hinein in den hellen Tag, der sich eine fröhliche Sonne an den Himmel gehängt hatte und nichts vom Unglück zu wissen schien.
    Steves Leute, vier Weiße, die seit Jahren auf dem Gut beschäftigt waren, winkten ihr zu, und Amber winkte zurück.
    Amber folgte einfach ihren Füßen. Sie hatte kein Ziel, und doch schien es gar nicht anders möglich, als dass sie zu der Stelle ging, an der ihr Liebster begraben lag. Damalas kreisten kreischend über der Stelle. Ihre Schatten warfen Kreuze auf das heimliche Grab. Kreuze wie damals, als Amber mit Maggie, Jake und Scotty

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