Unter dem Teebaum
fragen.«
»Das geht den meisten Menschen so. Wir sind uninteressiert am anderen, aber wir sind es nicht aus Bosheit. Die größte Grausamkeit, zu der wir fähig sind, ist die Gleichgültigkeit, und ich weiß nicht, ob sie schlimmer als Bosheit ist. Kommt er wieder?«
Walter Jordan strich seinem Enkel, der in einem fahrbaren Holzbettchen neben ihm stand, über das vom Schlaf verschwitzte Köpfchen. »Möchtest du denn, dass er wiederkommt?«, fragte er.
Amber schwieg. Sie wusste keine Antwort. Steve Emslie hatte Jonahs Tod nicht verhindert. Steve Emslie hatte die Heirat erpresst. Steve Emslie behandelte die Schwarzen schlecht. Steve Emslie hatte ihren Vater mit Gefängnis bedroht. Das alles war doch schlimm, oder nicht? Sie musste eigentlich froh sein, ihn los zu sein, und hatte Grund genug, jeden Tag aus lauter Dankbarkeit eine Messe lesen zu lassen.
Andererseits war da dieser Augenblick der Nähe gewesen. Steve war gekommen, als sie Hilfe gebraucht hatte. Und er hatte den kleinen Jonah als seinen Sohn anerkannt, obwohl jeder sah, dass Jonah niemals sein Sohn sein konnte. Amber wusste, dass sich die anderen Männer hinter Steves Rücken den Mund zerredeten und ihn den »Gehörnten« nannten, dessen Frau tüchtig eins mit dem Knüppel verdient hätte.
Es gab eine Seite an ihm, die Amber verhasst war. Und eine andere, die sie mochte.
Sie breitete die Arme aus. »Ich weiß es selbst nicht, Vater. Ein Teil von mir wünscht ihn zum Teufel. Der andere Teil wartet ab.«
Sie stand auf, nahm das Baby aus dem Körbchen und lächelte glücklich in das zahnlose Gesicht. Sie liebte das Kind. Sie würde es behüten und beschützen. Wenn es sein musste, mit ihrem eigenen Leben.
Vier Wochen später war Steve wieder da. Er stand einfach eines Morgens in der Küche und hieß Aluunda, ihm ein kräftiges Frühstück aus Speck und Eiern zu braten. Als Amber die Küche betrat, nickte er kurz mit dem Kopf, dann schaufelte er stumm das Essen in sich hinein.
Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihm zu. Nach einer Weile fragte sie: »Wo bist du gewesen?«
Er tat, als höre er sie nicht. Als sein Teller leer war, stand er auf und verließ wortlos die Küche. Wenig später hörte sie, wie er den vier Arbeitern Anweisungen gab, die Böden der Weinberge zu lockern und die Reben zu beschneiden.
Amber seufzte und sah ihm nach. Aluunda berührte ihren Arm. »Du wunderst dich über sein Verhalten?«, fragte sie.
Amber nickte.
»Und dein Verhalten, wundert es dich nicht?«
»Wie meinst du das?«
»Nun, ein schwarzer Mann wäre tief in seiner Ehre und seinem Stolz verletzt, bekäme seine Frau ein weißes Kind. Er würde sich betrogen, hintergangen, verraten fühlen. Warum soll ein weißer Mann anders denken als ein schwarzer?«
»Du nimmst Steve in Schutz, Aluunda?«, fragte Amber entgeistert.
Die alte Frau schüttelte den Kopf.
»Nein, ich nehme ihn nicht in Schutz. Aber wenn du ihn verstehen willst, dann musst du versuchen, so zu denken wie er. Es kann dir noch nützlich sein.«
Amber sah Aluunda an und nickte ein paar Mal langsam mit dem Kopf. »Ich glaube, ich verstehe, was du mir sagen willst.«
Dann ging sie in den Weinkeller, um die Flaschen zu drehen.
Es dauerte nicht lange, da kam ihr Vater dazu.
»Amber, ich möchte nicht, dass du dich weiter um das Gut kümmerst. Du hast einen Ehemann und ein kleines Kind. Dein Platz ist nun im Haus.«
Amber fuhr herum. »Was?«, fragte sie. »Wie bitte? Was hast du gesagt?«
Walter legte eine Hand auf ihren Unterarm. »Sieh mal, du bist jetzt Ehefrau und Mutter. Du hast Pflichten, musst dich um deinen Mann und dein Kind kümmern. Wie willst du das alles schaffen? Keine Frau mit einem so kleinen Kind arbeitet. Dein Platz ist nicht mehr im Weinkeller, sondern im Haus.«
»Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du so etwas sagst.«
Sie wandte ihm den Rücken zu und drehte weiter die Flaschen.
»Amber, ich fürchte, du hast mich nicht verstanden! Ich möchte, dass du deine Finger vom Wein lässt und die Dinge machst, die zu einer Frau passen. In mein Haus soll Ruhe einkehren.«
Seine Worte klangen wie ein Befehl.
Amber fuhr herum. Ihre Augen funkelten. Sie holte tief Luft und spuckte ihrem Vater die Worte vor die Füße: »Hat Steve das von dir verlangt, ja? Oder verlangen das die anderen Winzer? Es ist nicht üblich, eine Frau als Winemaker zu haben, nicht wahr? Hast du Angst um deine Kunden? Willst du mich deshalb an den Herd ketten? Oder stört dich mein schwarzes
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