Unter dem Vampirmond 01 - Versuchung
drangen. » Sonst würdest du jetzt nicht in meinem Auto sitzen. Es ist nur nicht dasselbe wie bei den anderen.«
» Ach, denk doch, was du willst!« Wieder verschränkte ich trotzig die Arme. Dann dachte ich an Milo und an all die kleinen, seltsamen Dinge, die er tat und die ich mir immer damit erklärt hatte, dass er jünger und verantwortungsvoller war als ich, und ich fragte in einem weicheren Ton: » Dann … glaubst du wirklich, Milo ist schwul?«
» Ja, er ist schwul«, antwortete Jack bestimmt. » Und bevor du fragst: Ja, ich merke so etwas. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich weiß es. Wie ein Löwe weiß, welches Zebra in der Herde das schwächste ist.«
» Willst du damit etwa sagen, schwul zu sein, habe etwas mit Schwäche zu tun?«
Ich war noch dabei, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass mein Bruder schwul war, und schon hatte ich das Gefühl, seine Homosexualität verteidigen zu müssen. Milo war mein kleiner Bruder und wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, dem ich wirklich etwas bedeutete.
» Nein, ich vergleiche meine besondere Gabe, bestimmte Dinge zu bemerken, mit dem sicheren Gespür eines Löwen«, erklärte Jack.
Ich schmollte immer noch ein wenig, weil meine Mutter und mein neu entdeckter schwuler Bruder offenbar scharf waren auf Jack, doch auf den konnte man einfach nicht lange sauer sein.
» Hey, weißt du, was dich aufmuntern würde?«
» Ich kann nur raten«, sagte ich trocken.
» In der Spielhalle Dance Dance Revolution spielen.« Ohne Vorwarnung machte er eine 180°-Kehrtwende über drei Fahrspuren.
» Für mich hört sich das nicht so toll an.« Das tat es wirklich nicht, doch Jack hielt es offenbar für die beste Idee aller Zeiten, und das überzeugte dann irgendwie auch mich.
Ich bekam langsam den Eindruck, dass sich meine Gefühle den seinen anglichen, eine Vermutung, die mich hätte beunruhigen sollen, doch weil es ihn scheinbar nicht beunruhigte, machte auch ich mir keine Sorgen.
Ich kam sehr spät nach Hause – wie immer. Nachdem die Spielhalle geschlossen hatte, fuhren wir noch eine Weile durch die Straßen spazieren, bis mich Jack schließlich zu Hause ablieferte.
Mom war zur Arbeit gegangen und Milo ins Bett, sodass kein Wort über Jacks Besuch fiel.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, ging ich sofort zu Milo, um mit ihm über Jack zu sprechen. Ich hatte nicht erwartet, dass er besonders gesprächig sein würde, doch sein knappes » er scheint nett zu sein« wurde dem Treffen von gestern Abend wirklich nicht gerecht.
Die Tatsache, dass Milo etwas so Wichtiges vor mir verborgen hielt, gab mir ein unbehagliches Gefühl. Ein Teil von mir wollte ihn zur Rede stellen und ihn auffordern, es mir zu sagen. Doch es war seine Angelegenheit, und er hatte das Recht, selbst zu entscheiden, wann er bereit war, darüber zu sprechen.
Mein Unbehagen veranlasste mich, den Tag im Bett zu verbringen, zu lesen und Death Cab for Cutie zu hören. Als meine Mutter aufstand, ging ich in die Küche, um mir eine Limo zu holen und zu erfahren, was sie zu Jack meinte. Doch zu meiner Enttäuschung reagierte sie ähnlich wie Milo.
Natürlich wollte ich nicht, dass sie von Jack schwärmte, bis es mir hochkam, doch die Zurückhaltung der beiden, ihre ehrliche Meinung über ihn zu äußern, irritierte mich. Ich konnte mir zwar vorstellen, dass es ihnen peinlich war, wie sie sich benommen hatten, aber trotzdem.
Nachdem mir Mom bestätigt hatte, dass ich Jack weiterhin treffen durfte, ließ ich das Thema auf sich beruhen. Zumindest mochte sie ihn, und ich konnte tun, was ich wollte.
Ich ging in mein Zimmer zurück und überlegte, warum es mir so wichtig war, ihn zu sehen. Ich war seinem Zauber nicht auf dieselbe Weise verfallen wie die anderen, doch das hieß noch lange nicht, dass ich mich nicht auch in seinem Bann befand. Wie er gesagt hatte, fühlte auch ich mich zu ihm hingezogen, sonst würde ich nicht ständig mit ihm ausgehen.
Ich streckte mich auf dem Bett aus und fragte mich, ob es sich wohl um etwas Ähnliches handelte wie in diesem üblen Film Love Potion No. 9 – Der Duft der Liebe mit Sandra Bullock, in dem ein spezieller Trank dazu führte, dass plötzlich alle scharf auf einen waren.
Vielleicht hatte Jack im Zusammenhang mit irgendeinem seltsamen Regierungsexperiment auch so einen Trank zu sich genommen.
Aber warum sollte die Regierung ausgerechnet in Minnesota solche Experimente durchführen? Gab es hier vielleicht sogar eine CIA - oder FBI
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