Unter dem Weltenbaum - 01
die Tränen in die Augen traten.
»Bitte«, sagte er so leise, daß nur der Aware und Aschure ihn hören konnten, »laßt mich sie halten.«
Ramu zögerte zunächst, reichte ihm dann aber den schlaffen Körper. Wenn Schra den heutigen Tag überleben sollte, brauchte sie dafür die Hilfe des Axtherrn. Axis nahm das Mädchen behutsam in die Arme. Nachdem er sie einen Augenblick lang betrachtet hatte, tauchte er die Hand in den Wassereimer und wusch ihr den Schmutz aus dem Gesicht.
Danach fing der Krieger an, ganz leise und sanft für sie zu singen. Ein eigentümliches Lied, das fast ohne Melodie auskam und hauptsächlich aus Hauchen und Trillern bestand. Dennoch schlug die Weise jeden, an dessen Ohr sie drang, mit ihrer ganz besonderen Schönheit in den Bann. Das Lied drang dem Awarenzauberer durch Mark und Bein, hatte er es doch erst einmal in seinem Leben vernommen, doch nicht aus dem Mund eines Menschen. Nur die allermächtigsten ikarischen Zauberer vermochten diesen Heilzauber zu singen. Aber selbst sie erwiesen sich oftmals als nicht stark genug, seine Wirkung heraufzubeschwören. Ramu sank mit weit aufgerissenen und ungläubigen Augen gegen die Wand. Nicht einmal Gehörnte waren zu so etwas in der Lage, wie war dies dann einem Menschen wie diesem Krieger möglich?
Auch Aschure stand wie vom Donner gerührt da. Was stellte der Axtherr mit dem Kind an?
Ogden und Veremund hingegen hörten die Weise kaum, aber sie fühlten sie, und Tränen stiegen ihnen in die Augen. »Ach, unser Bester!« flüsterte der Hagere unhörbar. »Rettet sie!«
Ramu konnte nur noch auf den Mann und das Mädchen starren. Axis’ Gesang wurde kaum lauter, aber immer eindringlicher … und nach einer Weile regte sich Schra. Zuerst nur mit einem ruckhaften, leichten Zucken, dann immer deutlicher, und schließlich streckte sie Arme und Beine. Der Krieger hörte auf zu singen, betrachtete die Kleine und sah den Priester lächelnd an. »Sie lebt«, erklärte er und schien überraschter zu sein als die anderen Anwesenden. Ramu gewann den Eindruck, daß der Axtherr selbst nicht so recht verstand, was er da bewirkt hatte.
Der Aware streckte die Arme nach Schra aus, aber Axis hielt sie weiterhin fest. Das Mädchen war jetzt wach und sah seinen Retter neugierig an. Schließlich streckte sie eine Hand aus und berührte seinen Bart. »Ich kann die Kleine für diese Nacht aus der Zelle schaffen«, erklärte Axis dem Awaren, »aber ich weiß nicht, ob ich Euer Leben zu retten vermag. Als Axtherr habe ich vor dem Seneschall einen Eid abgelegt, und der verlangt, daß ich alle Unaussprechlichen töte. Und …« Axis hielt inne. Wie kam es ihm überhaupt in den Sinn, diese Wesen retten zu wollen? Schließlich handelte es sich bei ihnen um die Erzfeinde des Reiches.
Ramu nickte. Er verstand natürlich, daß der Axtherr der letzte war, der etwas zu ihrer Rettung unternehmen konnte. Doch hatte er nicht gerade Schra ins Leben zurückgerufen? Wer ein solches Zauberlied beherrschte, konnte kein gewöhnlicher General der Kirche sein. Der Aware streckte eine Hand aus und berührte Axis vorsichtig an der Wange, ohne dabei auf Belials besorgtes Zischen zu achten. »Ich verstehe«, entgegnete der Priester leise, »wenn ich auch nicht begreife, warum jemand mit der Seele eines ikarischen Zauberers die schwarze Uniform mit dem Abzeichen der Zerstörung trägt. Ganz sicher hassen die Ikarier den Seneschall doch genausosehr wie wir. Aber vielen Dank für das Lied, das Ihr Schra gesungen habt.« Der Aware zog die Hand wieder zurück und strich damit flüchtig über die Doppelaxt an der Brust seines Gegenübers.
Axis’ Miene verhärtete sich nach diesen Worten, und er erhob sich unvermittelt. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an, die Worte in sich einsinken zu lassen, die der Fremde gerade zu ihm gesagt hatte. »Aschure«, wandte er sich an die exotische Schöne und reichte ihr das Mädchen, »nehmt sie über Nacht zu Euch und versorgt sie.« Sein Blick fiel auf den Mann, der im Schmutz und Unrat der Zelle hockte, und er trat nach draußen. »Belial, holt zwei Eurer Männer, die diesen Saustall reinigen sollen.« Der Krieger starrte den Pflughüter an, der eben wieder zu sich kam, sah über die beiden Mönche hinweg und verließ wortlos und mit großen Schritten den Keller.
33 Das verbotene Tal
Aschure nahm das Kind mit sich in das Haus, das sie mit dem Mann teilte, den sie Vater nannte. Die junge Frau fühlte sich von dem eben Erlebten immer noch verwirrt,
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