Unter dem Weltenbaum - 01
schürfte sich dabei die Hände auf.
Jemand Dunkles und Großes beugte sich über sie. »Weg! Laß mich in Ruhe!« zischte sie den Fremden an und versuchte, sich auf Händen und Gesäß aus der Reichweite seiner Pranken zu schieben.
Er richtete sich wieder auf. »Ich bin’s doch nur, Herrin«, erklärte eine leise Stimme mit deutlichem Provinzakzent. »Jack, der Schweinehirte. Ich werde Euch doch nichts tun. Die Leute nennen mich Jack Simpel.«
Faraday hielt den Atem an, um jeden Moment losschreien zu können. Die Wolken flogen nicht mehr so dicht am Mond vorbei, und sie erkannte jetzt sein Gesicht. Ein Mann in den mittleren Jahren, dem das dünne blonde Haar in die Stirn hing, mit einem sonnengebräunten, wettergegerbten Gesicht. Über dem breiten Grinsen blickten sie zwei freundliche Augen an. Faraday starrte ihn eine Weile an und fragte sich, was dieses Gesicht von anderen unterschied. Aber natürlich, Jack besaß die Züge eines harmlosen und freundlichen Schwachsinnigen. Er hielt einen langen Stab in der Rechten, der ihn um eine Handbreit überragte. Das Ende lief in einen gekrümmten Aufsatz aus dunklem Metall aus. Jacks Begleiter entpuppten sich als große, aber ungefährliche Schweine, die das Mädchen neugierig beäugten.
Die weiße Katze schnurrte so laut, daß eigentlich jeder Wächter im Lager darauf aufmerksam werden mußte. Dabei strich sie dem Schweinehirten um die Beine, als sei er ihr der allerliebste Mensch auf der Welt. Jack bückte sich und hob das Tier auf.
»Schöne Katze«, sagte er leise. »Schöne Katze. Schöne Katze.« Jack winkelte den Arm an, damit sie darauf sitzen konnte, und strich ihr lange und genießerisch über das weiche Fell. Der Hirt hatte schöne Hände mit geraden langen Fingern und kurzgeschnittenen Nägeln.
Faraday erinnerte sich jetzt, daß sie schließlich eine Edle war, rappelte sich wieder auf, schob den verrutschten Umhang zurecht und wischte die schmutzigen Hände ab.
»Was treibst du hier?« fragte sie den Mann streng, weil sie sich immer noch nicht ganz von dem Schrecken erholt hatte, den er ihr eingejagt hatte.
Jack senkte verlegen den Blick und trat von einem Bein aufs andere. »Ich wollte Euch nichts tun, Herrin, und habe nur meine Freunde zu einem kleinen Spaziergang ausgeführt. Ist nämlich eine schöne Nacht für einen Spaziergang.«
Faraday starrte auf die Schweine. Etwa fünfzehn Tiere warteten geduldig hinter ihrem Hirten. Sie sahen wohlgenährt aus und hatten viel Speck angesetzt. Die Edle vermutete, daß Jack auf einem Hof irgendwo in der weiteren Umgegend arbeitete und sich hauptsächlich um das dortige Borstenvieh kümmerte. Meist trieb er sie wohl auf die weite Ebene, damit sie sich dort in aller Ruhe für den Markt fettfressen konnten.
»Du hast mich erschreckt«, warf sie dem Mann vor. Doch kaum waren ihr diese Worte über die Lippen gekommen, wünschte sie schon, sich nicht so zickig angestellt zu haben.
Der Hirte wirkte jetzt richtig zerknirscht, und seine Stirn legte sich vor Kummer in tiefe Falten. »Herrin, bitte, ich wollte Euch wirklich nichts tun.«
»Ist ja schon gut, Jack. Ich weiß, daß du nichts Böses im Schilde führst. Nun sieh sich einer diese Katze an«, fügte sie hinzu, um ihn von seinen Schuldgefühlen abzulenken. »Sie hat ja einen richtigen Narren an dir gefressen.« In Wahrheit war sie eifersüchtig, weil das Tier Jack so große Aufmerksamkeit schenkte. Bislang hatte die Katze nur Axis und ihr Zuneigung erwiesen. Wie ein Band, das die drei aneinanderschmiedete.
Der Hirte strahlte, und damit verschwanden alle Sorgenfältchen aus seinem Antlitz. »Sie heißt Yr, Herrin, und ich habe sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Viele Jahre nicht mehr. Mehr Jahre, als ich Schweine bei mir habe. Bestimmt mindestens zweimal so viele.«
Faraday lächelte ihn nachsichtig an. Die Katze war gewiß vor dieser Reise noch nie aus Karlon herausgekommen und ganz gewiß noch keine fünfzehn Jahre alt, geschweige denn dreißig. Der arme Jack, er lebte gewiß in einer wunderbar einfachen Märchenwelt.
»Und was hat dich hierhergeführt?« fragte das Mädchen noch einmal, doch jetzt deutlich weniger vorwurfsvoll.
»Wir kommen gerade aus dem Wald, schöne Herrin.«
Faraday starrte ihn mit offenem Mund an. »Aus dem Wald der Schweigenden Frau? Aber Jack, die Bäume dort sind böse. Weißt du das denn nicht?«
»Nein, die Bäume sind gut, liebe Herrin. Alle im Dorf sagen mir, der Wald sei schlecht, aber die Bäume und ich
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