Unter dem Weltenbaum - 01
sagen hat.«
Der Mann war kein einfacher Schwachsinniger, sondern völlig verrückt, sagte sich das Mädchen. Aber wenn er unbedingt darauf bestand … Sie schloß für eine Weile Mund und Augen und versuchte, ihre guten Absichten in das Holz strömen zu lassen. Und gerade als sie aufgeben und den Baum loslassen wollte, durchfuhr es sie, und sie riß die Augen weit auf.
»Jack!« keuchte sie. Etwas Unglaubliches hatte sich gerade ereignet. Als ihre Gedanken und Gefühle in den Baum flossen, spürte Faraday die Gegenwart eines anderen Wesens, ohne dies genauer erklären zu können. Das Mädchen fühlte den Baum und dessen Innerstes im Herzen. Die Handfläche an der Rinde prickelte.
Der Hirte lächelte froh und zog seine Hand zurück. Faraday trat noch näher an den Stamm, bis sie sich mit dem ganzen Körper dagegenpreßte.
»Jack«, sagte das Mädchen voller Staunen, »er singt für mich!«
Dem Mann traten Tränen in die Augen.
In der Burg hockten Ogden und Veremund immer noch neben Axis. Als der Baum für Faraday sang, wurden ihre Augen groß und strahlten so hell, daß sich die gesamte Kammer mit goldenem Schein füllte.
»Mein Bester!« keuchte der Dicke, und Veremund suchte nach seiner Hand. Beide waren zutiefst ergriffen.
»Er singt für mich«, verkündete das Mädchen noch einmal. »Ich fühle es. Aber ach, sein Lied ist so traurig. Jack, warum singt er so traurig?«
Der Hirte trat näher und umarmte Baum und Edle. Faraday mußte gleichzeitig weinen und lachen. Weinen, weil der Stamm so traurig klang, und lachen, weil ihr dieses Erlebnis so unbeschreiblich schön vorkam. »Jetzt höre ich auch die anderen«, teilte sie dem Mann leise mit, »der ganze Wald singt für mich.«
Selbst Yr, die sie immer noch beobachtete, traten Tränen in die Augen. Der Baumfreund war gefunden. Endlich.
Jack wich einen Schritt zurück. »Fragt ihn, was Ihr wollt, Faraday, allerliebste Herrin, und der Baum wird Euch alles zeigen, was er selbst sieht.«
Das Mädchen fragte sich flüchtig, woher der Einfältige plötzlich ihren Namen kannte. Sie hatte sich ihm doch nicht vorgestellt. Aber dann beschäftigte sie sich wieder mit dem Anliegen, das sie an den Baum hatte. Womit sollte sie beginnen? O ja, Bornheld.
›Berichte mir von meinem Gemahl!‹ forderte sie den Baum nicht mit der Stimme, sondern mit dem Herzen auf.
Für einen Moment drohte das Lied zu verblassen, doch dann schwoll es mächtig an und füllte Faradays Bewußtsein mit einem so lebendigen Bild, daß sie dahinter die Nacht und den Wald nicht mehr wahrnahm.
Doch leider hatte das Bild nur wenig Schönes zu zeigen, und die Miene der Edlen drückte Verzweiflung aus. Sie sah sich im Mondsaal des Palastes von Karlon, doch dort standen nicht mehr die Tische wie am Abend von Priams Namenstagsbankett. Nur einige hundert Menschen drängten sich am Rand des Saals. Ihre Gesichter und Mienen wirkten schemenhaft, vielleicht weil Faraday sie nicht beachtete. Diese Menschen waren nur die Zeugen der Tragödie, die sich vor ihren Augen abspielte. Die starken Arme von Jorge, dem Grafen von Avonstal, hielten sie fest. Faraday versuchte sich von ihm zu befreien und mit den Händen nach vorn zu greifen, aber Jorge war zu stark für sie. Tränen quollen ihr aus den Augen, denn das, was sie zu sehen bekam, erfüllte sie mit tiefstem Entsetzen.
Das Baumlied veränderte sich, klang härter, und die Bilder wechselten sich in rascher Folge ab.
Faraday gewahrte Bornheld, der von seinem Thron stieg. Nun zwei Männer, die einander mit gezogenen Schwertern umkreisten. Ihre Gesichter waren wutverzerrt und spiegelten lang aufgestauten Haß wider. Bornheld und Axis. Beide bluteten, und beide taumelten von der Anstrengung des Kampfes. Dann Rot. Alles in Rot getaucht; sogar die schweigenden Zuschauer am Rand schienen nun durchweg roten Samt zu tragen. Eine blutrote Sonne hing über einem goldenen Feld. Jetzt Hitze. Gewaltige Hitze. Faraday zuckte zurück, als der riesige Glutball sie zu verschlingen drohte. Die beiden Männer bewegten sich umeinander, tauschten Schwertstreiche aus, bluteten. Danach eine Feder, nein, unzählige Federn, die um das Mädchen herumtrieben. Wieder kämpften die Männer. Eine weinende Mutter. Ein Schrei wie von einem zornigen Raubvogel. Schartige Klingen, denen man den häufigen Gebrauch ansah. Ein Herz, das nutzlos schlug. Ein goldener Ring, der durch die Luft flog. Wieder ein Schrei, diesmal ihr eigener. »NEIN!«
Bornheld stürmte vor, hieb auf Axis ein und
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