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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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noch irgend etwas zu e m pfinden, noch nicht ein m al das Verge h en der Zei t . Als Philipp herein k a m , stellte s i e fest, daß eine der Schwestern inzwischen das Fenster geöffnet und Marianne gekäm m t und ihr das G esicht gereinigt haben mußte. Er dankte dem Arzt, der ihn angerufen hatte, und schic k te j e der m ann hinaus. Dann kniete er vor Mariannes Bett nieder. Das war zuviel für Carla.
    »Sie hat auf dich gewartet«, sagte sie, stand von ihrem Stuhl auf und griff n a ch dem nächsten der vielen Blu m e nsträuße, den Rosen neben Mariannes Bett. Es war leicht, sie aus der Vase herauszuziehen; m ittle r weile roch das W asser, das in dieser Nacht ni c ht ausgewechselt w o rden war, l e icht f aulig. Einen Moment lang hielt sie den Strauß in ihren Händen und spürte d i e Dornen, die gegen ihre Haut stachen, dann ließ sie die Rosen fallen und wandte sich der nächsten Vase zu.
    »Alles, was m an für Geld kaufen k a nn«, fuhr sie fort, und auch die Treibhaus or chideen la n deten w i e Mikado-Stäbe auf d e m sauberen Boden des Krankenzi mm ers. » W ir sind zu einigen aufschlußreichen Erkenntnissen gelangt, Marianne und ich. Aber weißt du, du bist noch besser als unser Vater. S i e allein sterben zu lassen war die eine Grausa m keit, die ihm nicht ein f i e l.«
    Bei dem nächsten Stra u ß m achte sie sich nicht die Mü h e, ihn a u s der Vase zu ziehen. Sie ließ bei d es auf den Boden fallen. Die Vase, eines der an alles m ögliche gewöhnten Krankenhausgefäße, zerbrach nicht, sondern rollte nur eine W eile, während das trübe W asser aus ihr herausfloß und die nicht m ehr ganz frischen Blu m en in einer Lache zurüc k ließ.
    »Du bist pe rf ekt, Philip p , wirklich p e r f ekt.«
    Er stand auf. »Hör auf da m it«, stieß er hervor.
    Als Antwort griff Carla nach der nächsten Va se . Dies m al spritzte das W asser zu ihrem zerdrückten, hellen Sommerkleid hoch und färbte es m it dunklen Flecken.
    Philipp erfaßte ihre Hände. »Hör auf!«
    Der Druck auf ihre Handgelenke hätte sie unter anderen U m ständen noch w ütender gemacht, aber in dem Zustand, in dem sie sich befand, zerriß er statt dessen die l e tzten Überreste ihrer Selbstbeherrschung, und sie begann zu weinen. Um den langen, schmerzhaften Tod, den sie gerade miterlebt h a tte, um Anni und Angharad und schließlich, was sie sich nie gestatt e t hatte, um ihren Vater. Die Tränen m achten sie blin d ; sie spürte, wie Philipp sie lo s ließ und statt dessen die A r m e um sie legte, und ob w ohl sie sich dafür haßte, wehrte sie sich nicht, sondern schluchzte in den feinen Stoff s e ines Jacketts. Er war einfach ein leben d iger Mensch in diesem vom Tod beherrschten Z i m m er, und sie hielt s i ch an ihm fest, bis die s c hwarze Flut aus Trauer und Verlust von ihr gewichen war. Dann m a chte sie sich steif, und er trat sofort einen Schritt z u rück. Während der ganzen Zeit hatte er keinen Ton von sich gegeben noch etwas anderes getan, als sie an sich zu drücken.
    Sie scha u te noch ein m al zu Marian n e, dann drehte sie sich um. Ihre Fußspitze trat auf eine d er über a ll im Raum ve r streuten Blu m en, und sie konnte die üppige K nospe unter ihrem dünnen Schuh zerspringen fühlen. Ehe sie die Tür errei c hte, sa g t e Philipp leise:
    »Ich konnte nicht kom m en. Ich habe sie nicht geliebt, aber ich wollte s i e nicht sterben s ehen. Dazu habe ich den Tod zu o f t erle b t .« Sie blieb für einen Augenblick still. Dann erwiderte sie, sachte, aber bestimmt: »Das ist keine Entschuldigung«, und ging hinaus.
     

10. K APITEL
     
    Für Käthe war es bitter und schön zugleich, im Septe m ber des Jahres 1930 in Berlin zu sein. Sie h a tte inzwischen akzeptiert, daß sie München nicht m ehr verlassen, kei n e neue adäquate Stelle finden würde; also war die Chance, für die Münchner P ost über den W ahlka m p f in der Hauptstadt zu ber i chten, ein unerwartetes Geschenk gewesen, das sie hauptsächlich der Resonanz auf ihre engagierten Artikel über den Tod der Passauer Lehrerin Elly Weithaus verdankte. Man hatte Elly W eithaus aus dem Schuldienst entlassen, weil sie der kom m unistischen Partei angehö r te, obwohl achtunddreißig Eltern ihrer Schüler, zum großen Teil deutschnational eingestellt, eine Petition für sie unterschrieben hatten; als sie ihre Entlassung anfocht, steckte m an sie m it Einverständnis ihres zutiefst konservativen Vaters ins Irrenhaus, wo sie unter ungeklärten Um ständen starb.

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