Unter dem Zwillingsstern
sie und starrte m it ihren aufgequollenen Augen zu Car l a hoch. »Philipp ist nicht hier. Er schic k t Bl u m en, er bezahlt Pflegeri n nen, aber er ist nicht h i er.«
Ihr Griff um Carlas Ha n d wurde f e ster. »Du hast diese Frau geliebt, nicht wahr?«
Der plötzliche Th e m enwechsel brachte es m it sich, daß Carla fragen m ußte, wen Marianne m einte.
»Anni«, sagte Marianne. »Du hast nie Fragen über deine Mutter gestellt. Das war m ir m anch m al unhei m lich, nur dachte ich, du kannst dich eben nicht an sie er i nnern. Aber warum hast du nie Fragen über Anni gestellt ? «
» W eil ich mich an m eine Mutter erinnern kann«, erwiderte C arla. Der schwere, süße Duft des Rosenstraußes, der auf d e m Tisch neben Mariannes Bett stand, würgte in ihrem Hals. Marianne wandte den Kopf von ihr ab, doch sie ließ Carlas Hand nicht los.
»Ich m uß dir etwas sagen. Ich habe es schon gebeichtet, endlich konnte ich es beichten, aber ich m uß es auch dir sagen. Ich habe Anni gehaßt, u nd weil ich wollte, daß er sich sc h eiden ließ, daß sie wegging, nur das, habe ich ihm erzählt, ich hätte sie m it einem anderen Mann gesehen. Es ist m eine Schuld, daß sie gestorben ist. Ich hätte es wissen m üssen. Aber siehst du, ich wollte vorher nie glauben, daß der Tod deiner Mutter etwas anderes als ein Zufall war. Ich wollte s ie hassen und nicht ihn.«
Der Geruch nach Medizin, der anfangs von den Blu m en überdeckt wurde, f ilte r te s ich all m ählich he r a u s. Die Übelkeit in C a rl a s Magen wurde stär k er.
»Verzeih m i r. Bitte verzeih m i r.«
Anni war tot, und was es daran zu rächen gab, war längst gerächt. Hätte das W issen ei n en Unterschied ge m acht? Ver m utlich nicht. Es war trotzdem die Schuld ihres Vaters. Da m als, als Philipp ihr von seinem Wunsch, sie noch ein m al z u sehen, erzählte, hatte sie be f ürchtet, daß er tun wür d e, was Marianne j e tzt t a t: sie st e ll ve r tr e t end für die Tote um Verzeihung bitten.
»Ich verzei h e dir«, sa g te Carla abru p t, aber s ie l ö ste i h re Ha n d aus Mariannes Griff, stand auf und ging zum Fenster. Mariannes Stimme folgte ihr, zerrte an ihr e n Nerven und legte sie bloß.
»Es war im m er leichter, anderen die Schuld zu geben. Angharad, Anni, dir. A ber die W ahrheit ist«, Marianne hustete, »die Wahrheit ist, daß m i ch von allen, die ich geliebt habe, nur m eine Mutter wiedergeliebt hat. W arum war das so, Carla ? «
Plötzlich er f aßte sie Scham. Als Ki n d hatte sie Marianne immer für selbstverständlich genommen, und spä t er war der per m anente Flirt m it Mariannes Ehe m ann, den sie noch nicht einmal m ochte, ein reizvolles Spiel m it dem Feuer gewese n , obwohl sie wußte, wie Marianne Philipp anbetete. Oder hing es da m it zus a mmen? Als Ausweitung einer kindlichen Rivalität? Du spielst Klavier und bist erwachsen, aber ich kann dafür sorgen, daß er mich mehr liebt? Bei der Vorstellung, daß Marianne nicht als einzi g e ihre Gefühle von einem autoritären, unzugänglichen Mann auf den anderen übertragen hatte, wurde ihr k a lt.
»Der Mangel liegt an ihnen, nicht an dir«, sagte sie und drehte sich wieder zu Marianne um, doch M arianne lag, in sich zusammengesunken, auf dem Bett, die Augen auf die Decke gericht e t, und schien sie nicht gehört zu haben.
»Bitte«, m ur m elte Mari a nne, »ich weiß, daß du böse auf m ich bist, aber könntest du bei m i r bleiben? Ich weiß nicht, wann der Priester wiederkom m t , und ich habe Angst…«
Also blieb sie und fragte sich, ob sie m it Marianne außerdem noch eine Vorliebe für Buße durch S e lbstbestrafung teilte. Das Sterben ihrer Schw e ster zog s i c h lange hin, über d en Nach m ittag, d i e Nacht und den frühen Morgen des nächsten Tages. Der Priester kam und ging, die Schwester kam und ging, und wenn Marianne vor Sch m erzen sc h r ie, kam ab und zu ei n er der Ärzte herein. Gegen acht Uhr morgens sagte einer von ihnen zu Carla, nun sei es soweit, sie m üsse sich vorbereiten. Sie erfaßte erneut Mariannes Hand. Sie glaubte nicht, daß Marianne sich ihrer Gegenwart noch bewußt war, doch sie spürte den Mo m ent, als Marianne starb, als ihre Hand erschlaffte und ihre geq u älte Seele s ie v erließ.
Der Arzt und die Pflegerin bekreuz i gten sich. Der Priester kniete nieder, und m it der geübten Mec ha nik, die d as Theater ihr ver m ittelt hatte, kniete Carla ebenfalls und be w e gte die Lippen zu seinen Gebeten. Sie war zu m üde, um
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