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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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versuchte, es in d e m schlichten, un m ittel b ar e n Ton f all zu sprec h en, d en sie bei Elisa b eth Bergner als Shaws heilige Johanna gehört hatte:
     
    Du großer Gott, dies L and ist ein P l akat,
    auf dem sie ihre Feste m alen mit Blut.
    Ihr Lied übt an dem Leid Verrat,
    der Mord m uß für die H etz’ die Zeche zahlen.
     
    Noch ehe sie zur letzten Strophe ka m , drang ein einzelner Zwischenruf aus dem Publiku m : »Sch a nde!« Er wurde sofort erstickt. Nun ja, dachte Carla, das ist e i ne offene Versammlung, und gewiß befanden sich auch einige Neugie r ige darunter, die m it Pazifis m us nichts im Sinn hatten und tatsächlich nur wegen der Pro m inenz einiger Gäste gekom m en w a ren. Sie be e ndete ihre Rezitation, nahm den Applaus entgegen, lächelte Eri k a Mann an und trat von dem Podium zurück. Die dunkelhaarige Frau begann zu sprechen, und der Ruf »Schande!« ertö n te er n eut, doch d ies m al wurde er nic h t er s tic k t, sondern au f genommen und von m ehreren Sti mm en wiederholt. E r ika Mann ließ sich nicht beirren und d e kla m ierte w eit e r, m it i hr er du r ch die Erkältung tiefen und aufgerauh t en Stim m e, und Carlas A nerkennung für sie wuchs. Mittlerweile kam Unruhe im Rest des Publiku m s auf. Die Zwischenrufe steigerten s i ch zum Brüllen.
    »Schluß! Hochverrat! S ch m ach und Schande! W ir protestieren i m N a m en der Nation!«
    »Ruhe! W i r haben für unsere Plätze b ezahlt!«
    »Schande!«
    Carla kniff die Augen zusam m en, um etwas von d e m zu erkennen, was dort unten vor sich ging. Sie konnte aus m achen, daß sich einige Leute erhoben hatten und andere auf sie zuran n ten, aber m e hr nicht. Ihre Brille lag in i h rer Handtasc h e auf d e m Platz neben Klaus Mann, der sich umgedreht hatte und dann wieder sichtbar beunruhigt zu seiner Sch w ester e m porschaute. Erika Mann hob die Stim m e, um die Unruhe zu übertönen. Es war hoffnungslos, mittlerweile versuchten einige der sozialistischen Studenten im Publikum, die »Schande« Rufer niederzubrüllen, und Carla h ö rte einige Entsetzensrufe und das Knacken v o n zers p litterndem Holz. Sie trat wieder an Erika Mann heran, die ihr Gedicht beendet hatte.
    » W as geht da vor? Ich bin kurzsi c htig«, setzte sie entschuldigend hinzu, »ich kann nichts erkennen.«
    »Ein Teil des Publikums schlägt m it Gum m iknüppeln auf den anderen ein«, entgegnete Erika Mann trocken, »und das sind nicht die Sicherheitskräfte. Ich hoffe nur, jemand hat daran gedacht, die Polizei zu be n achric h tigen.«
    »Lassen Sie uns hier raus!« sch l uchzte je m and und setzte so das Signal für eine Reihe ähnlicher H ilferufe und eine Massenflucht zum Ausgang hin.
    »Hilfe!«
    »Verräter!«
    »Faschisten!«
    » W enn die Kerle die Tribüne errei c hen, bevor die Polizei eintrifft, steht uns eine aufschlußreiche Erfahrung vaterländischer Gefühle bevor«, sagte Erika Mann. »Vielleicht m öchten Sie…«
    »Ich bleibe hier«, gab Carla zurück. Ihre Stim m e klang etwas belegt in ihren Ohren. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Ich wünschte nur, ich könnte besser sehen. Eine Freundin von m i r ist da unten.«
    Erika Mann hustete ebenfalls, dann m einte sie: »Kom m en Sie.«
    Sie gin g en b is z u r Ra m p e; d ie we n i g en Schritte s chienen sich se h r weit hinzuziehen, doch jeder wurde etwas leic h t er. Nun ja, dachte Carla. W enn ich je m als wirklich dazu kom m e, d i e heilige Johanna zu spielen…
    »Beschreiben Sie m i r Ihre Fr e undin«, sagte ihre B egleiterin.
    »Klein, herzfö r m iges Gesicht, um d i e Vierzig, trägt ein braunes, altes Kostü m … oh, und sie hat auch braune Haare, etwas länger als m eine.«
    »Ich glaube«, sagte Erika Mann, die Augen mit einer Hand abschir m end, »ich sehe sie. Keine Sorge, sie steht m it ein paar anderen an der W and, nicht bei den Ausgängen, also wird sie n icht erdrüc k t werden, und von den Schlägern ist a u ch keiner in un m ittelbarer Nähe.«
    »Erika«, rief ihr Bruder zu ihr ho c h, »komm da runter oder geh zurück! Bi s t d u verrüc k t?«
    »Komm du hoch«, rief sie. »Hier oben ist es sicherer, und m an sieht m ehr!«
    Der l e tzte R est von Fur c ht v e rlor si c h in d em seltsa m en Über m ut, der auch auf Carla über g riff. Und w e nn es zum Schlim m sten kom m t, dachte s ie, d ann erfülle ich gleich zwei W unschträu m e: Kathis, denn ich sterbe für eine gute Sache, und m einen, denn ich sterbe auf der Bühne, und etwas Besseres gibt es für

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