Unter den Linden Nummer Eins
»Herr Udet und die wichtigsten Leute aus den oberen Etagen der Lufthansa werden auch erwartet.«
»Ich weiß. Direktor Holtsen gibt ein Essen für sie in der Prominentensuite.«
Eine Windbö fegte über den Platz, wirbelte Papierfetzen auf und riß eine Fahne vom Balkongitter. Karl und Louis Adlon hielten die Hüte fest.
»Abwärts!« sagte Karl.
Die Fahne segelte vor ein anfahrendes Taxi und wurde durch eine Pfütze geschleift. Ein Polizist stoppte die Droschke. Ein SA-Mann sprang hinzu, wrang den Stoff aus. Der Polizist schaute nach oben und sagte etwas zu ihm. Der SA-Mann verschwand im Adlon .
Karl räusperte sich. »Da wäre noch etwas, Herr Generaldirektor. Zwei Zivile haben sich vorhin die Personalliste vorlegen lassen. Sie wollten mit Oskar Schneider sprechen. Kassner hat sie wie gute alte Bekannte begrüßt.«
»Das überrascht mich nicht. – Kriminalpolizei?«
»Ich tippe eher auf einen der Dienste. Es waren ein Mann und eine Frau. Bei der Kripo arbeiten meines Wissens keine Frauen. – Ist was mit Oskar, daß man sich derart um ihn kümmert?«
Louis Adlon schnippte einen welken Grashalm von seinem Mantelärmel. »Ihr Kollege Schneider hat mich vor einigen Tagen um die vorzeitige Auflösung seines Arbeitsverhältnisses gebeten. Ich habe eingewilligt.«
Karl runzelte die Stirn. »Er hat gekündigt? Seine Frau erwartet doch bald ein Baby, und umgezogen sind sie auch gerade erst.«
»Sie ist Jüdin, Meunier, das mag einiges erklären. Wie dem auch sei, die Schneiders sind jedenfalls gestern in die Schweiz geflogen. Man hat ihm – und ich habe keine Veranlassung, es nicht zu glauben – eine gute Stellung in Basel angeboten. Und vergessen Sie nicht, Schneiders Bruder war bis vor kurzem ein hohes Tier im preußischen Innenministerium.«
»Und deswegen bemühen sich die Geheimen um ihn? Na prost Mahlzeit, wenn das so weitergeht!«
Louis Adlon und Karl schlenderten zum Hotel.
»Wirklich schade, daß er weg ist«, sagte Karl. »Er war ein tüchtiger Mann.«
»Ich denke, Herr Schneider hat klug gehandelt.« Louis Adlon zog einen Briefumschlag aus der Manteltasche. »Das kam mit der Frühpost für Sie.«
»Danke.« Karl warf einen Blick auf den Absender und dann auf den Stempel: Oskar Schneider. Der Brief war in Tempelhof am Flugplatz aufgegeben worden.
»Wir brauchen dringend Ersatz für ihn.« Louis Adlon strich sich über den Oberlippenbart. »Kassner hat mir natürlich gleich jemanden empfohlen, als er von Schneiders Kündigung Wind gekriegt hat.«
Karl schnalzte mit der Zunge. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«
»Ich habe ihm zu verstehen gegeben, daß die Stelle bereits besetzt sei.«
»Dürfte ich fragen, wer …?«
Louis Adlon schmunzelte. »Wer? – Mit Sicherheit niemand aus Kassners Seilschaft. Die Stelle ist natürlich noch frei. Kümmern Sie sich bitte darum, daß wir einen würdigen Ersatz für Herrn Schneider finden.«
»Geben Sie mir ein paar Tage, Herr Generaldirektor.«
»Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie benötigen. Der Mann muß lupenrein sein. Einer vom Schlage Kassners reicht mir im Adlon .«
»Ich wünschte, es wäre bloß einer«, murmelte Karl, »Kassner will eine Parteizelle bei uns gründen. Auf der Liste, die rumgeht, steht nicht nur er.«
Louis Adlon vergrub die Hände in die Manteltaschen. »Wer alles noch?«
Karl nannte die Namen. Der Generaldirektor schnaubte verächtlich, als er hörte, daß sich auch Faß-Rüdiger in die Liste eingetragen hatte. »Ausgerechnet der! Der hätte doch früher am liebsten die ganze Fassade mit roten Fahnen drapiert und eine Lenin-Büste in der Halle aufgestellt. – Na egal! Da haben sie immerhin einen, der zu ihnen paßt: einen Muskelberg mit Spatzenhirn.«
Fritzchen rannte ihnen entgegen. »Herr Generaldirektor, Herr Meunier! Die Polizei will mit Ihnen sprechen, wejen der Absperrungen!«
»Erledigen Sie das mal, Meunier. Ich muß gleich in die Friedrichstraße zum Schneider.«
»Selbstverständlich, Herr Generaldirektor. – Fritzchen, sag, ich komme sofort!«
»Sehr wohl!« Der Page rannte zum Hotel zurück.
Karl steckte Schneiders Brief in die Manteltasche. Er lüftete den Hut und eilte dem Pagen hinterher.
In der Hotelhalle ging es zu wie in einem Taubenschlag. Eine Menschentraube belagerte den Rezeptionstresen. Pausenlos trafen neue Gäste ein. Kassner geleitete persönlich einen stiernackigen NSDAP-Reichstagsabgeordneten katzbuckelnd zum Fahrstuhl.
Fritzchen, gefolgt von einem jungen Polizeileutnant,
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