Unter den Linden Nummer Eins
Zehenspitzen. Ihr Begleiter tuschelte mit Kassner. Der nickte, griff nach dem Hausapparat. Sekunden später sah man Fritzchen durch die Halle zum Eingang spurten, aber er kam nicht weit. Die Lufthansaführung und Ernst Udet waren eingetroffen. Fritzchen mußte warten, bis Louis Adlon an der Drehtür seine Honneurs zelebriert hatte, dann stürmte er nach draußen, um, was immer Kassner ihm aufgetragen hatte, auszuführen.
Kassner folgte ihm, so schnell er konnte.
Vor der Drehtür hielt ihn ein Mann an. Er war ähnlich elegant gekleidet wie der Begleiter der Rothaarigen und hatte eine dunkelgrüne, henkellose Wildlederaktentasche unter den Arm geklemmt. Gestenreich wurde ihm von Kassner bedeutet, sich zur Rezeption zu begeben. Die Rothaarige und ihr Begleiter stürzten sich förmlich auf ihn, als er die Aktentasche auf den Rezeptionstresen legte. Köpfe wurden zusammengesteckt, dann begaben sich die drei zum Ausgang Wilhelmstraße. Die Rothaarige trug jetzt die Aktentasche. Karl heftete sich unauffällig an ihre Fersen. Vor der Weinhandlung wartete ein großer Mercedes auf das Trio.
Punkt 20 Uhr begann der Fackelzug. Ein flackernder Feuerstrom nahm Besitz von der Stadt. Zwischen den uniformierten Kolonnen marschierten Musikkapellen und spielten zackige Militärmusik. Karl stand mit anderen Hotelbediensteten hinter der Polizeikette, die das dichte Spalier der begeisterten Zuschauer vom Adlon fernhielt. Marschblock um Marschblock zog unter dumpfem Trommelwirbel und im Gleichschritt durch das Brandenburger Tor. Vor der französischen Botschaft brachen die Kapellen jedesmal die Marschmusik ab und intonierten die Melodie des Liedes Siegreich wollen wir Frankreich schlagen . Und jedesmal war ihnen tosender Applaus der Schaulustigen gewiß. Von den Adlon -Bediensteten schrie sich nicht nur Kassner heiser. Angewidert ging Karl ins Hotel zurück.
Erst nach Mitternacht fand Karl Zeit zu einer Zigarettenpause. Überall im Haus war man noch am Feiern. Er bat Fritzchen, ihm eine Tasse Tee ins Kurierzimmer zu bringen. »Was hat denn Herr Kassner heute nachmittag von dir gewollt, daß du fast Herrn Udet über den Haufen gerannt hast?«
»Ach, ick sollte die Nummer vom Auto det Chinamanns aufschreiben, aber als ick denn endlich draußen war, hab ick ihn nich mehr jesehen im Jewimmel. – Und hab natürlich prompt ’nen satten Anranzer jekricht.«
Eine gelbe Lampe leuchtete auf, es war das Signal, daß ein Page im Schreibsaal benötigt wurde. Fritzchen stellte den Tee ab und lief zum Treppenschacht.
Karl suchte sich eine ruhige Ecke hinter den Garderobenschränken und zündete sich eine Zigarette an. Mit dem Teelöffel schlitzte er Oskars Brief auf.
Lieber Karl,
ich hatte eigentlich schon länger vor, mit Dir zu reden, aber bedingt durch unsere plötzliche Abreise und die damit verbundenen Scherereien war mir das leider unmöglich. Daß Du und L. A. Kassner seit geraumer Zeit im Visier habt, ist mir natürlich nicht entgangen. Karl, es gibt da etwas, was Du unbedingt wissen solltest: Am Tag vor Erwins Ermordung soll Kassner in der Buchhaltung gewesen sein und sich bei Fräulein Schulte unter einem windigen Vorwand nach einigen Mitarbeiteradressen erkundigt haben, darunter nach der von Erwin!
Wenn Dich diese Zeilen erreichen, sind wir bereits außer Landes. Ein unverhofftes Arbeitsangebot von einem großen Baseler Haus war einfach zu verlockend, um es auszuschlagen, zumal Esther und mir die augenblickliche politische Entwicklung in Deutschland nicht gerade behagt – und Kassner sich neulich auch meine Anschrift besorgt haben soll!
Es grüßt Dich Dein Oskar
Karl drückte die Zigarette auf der Untertasse aus und steckte den Brief ins Kuvert zurück.
Als alle Festivitäten im Adlon ausgeklungen waren, fand er noch Gelegenheit, mit Hajo ein paar Worte zu wechseln, während Ernst Udet und die Lufthansa-Direktoren auf ihre Wagen warteten. Holtsen wollte noch, wie er es ausdrückte, mit Randhuber eine Runde durch das Nachtleben unternehmen und ließ Karl durch seinen Diener ausrichten, daß er ihn dazu mit Freuden einladen würde, aber Karl entschuldigte sich. Sein Dienst ging noch, bis die Kollegin Fleischer ihre Schicht antrat. Dann hatte er ein sehr frühes Frühstück mit dem Nachtportier und Mirow, dem Fahrer, eingenommen und sich für eine halbe Stunde im Pagenzimmer ausgestreckt, bis Frau Fleischer eintraf.
»Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, Karl?« Lilo Fleischer war eine resolute Kriegerwitwe, die, bevor sie ins
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