Unter den Linden Nummer Eins
Karl zu. Fast berührten sich ihre Schuhspitzen. Mit versteinertem Gesicht sagte er: »Kassner wird in den nächsten Wochen für die italienische Botschaft tätig sein. Hindenburgs Sohn hat sich persönlich für diesen Ganoven eingesetzt. Er hat wohl einen Tip von Goebbels bekommen. Kassner soll Delegationen aus Mussolinis unmittelbarer Umgebung durch Berlin führen. – Sie ahnen, was das bedeutet? Ahnen Sie es, Meunier?«
»Ich kann es mir ausmalen, Herr Generaldirektor.«
»Danke«, sagte L. A. »Danke!« Er öffnete den Wandtresor. »Seine Dreistigkeit wird ihn irgendwann einmal zu Fall bringen.« Der Tresor schloß mit einem hellen Klick. »Und dann, Meunier, könnte dieses Blatt Papier vielleicht der Stolperstein gewesen sein.«
»Es wäre zu wünschen, Herr Generaldirektor«, sagte Karl leise, aber es klang nicht sehr überzeugend.
Nach den Wahlen vom 31. Juli 1932 stellte die NSDAP die größte Fraktion im Deutschen Reichstag. Karl betrank sich mit Benno, bis er nicht mehr denken konnte.
Teil II
D IE S CHATTEN WERDEN LÄNGER
1.
F ACKELZUG
Karl wartete, bis sich Randhuber von Louis Adlon verabschiedet und mit seinen SS-Begleitern in Richtung auf das Berliner Verwaltungsgebäude der IG-Farben entfernt hatte. Zurück blieb eine glimmende Zigarettenkippe.
Der Generaldirektor stand neben dem Brunnen auf der Hotelseite des Pariser Platzes. Vor dem Eingang der Akademie der Künste verteilten SA-Leute Flugblätter, eine HJ-Kolonne klebte Plakate.
Karl schlängelte sich durch die Taxis, die in Doppelreihe vor dem Adlon -Café parkten. Kundschaft für die Droschkenkutscher gab es reichlich. Der Rundfunk hatte in den Mittagsnachrichten die Meldung verbreitet, daß Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte. Binnen Minutenfrist war das Hotel ausgebucht gewesen: Die neue Regierung hatte für den Abend einen monumentalen Fackelzug der Massenorganisationen angekündigt, und ein Zimmer im Adlon bot einen Logenplatz par excellence.
Die SA-Uniformierten traten in Reih und Glied an, schmetterten ein markiges Siegheil und zogen zum Taxistand weiter. Eine Droschke scherte aus und fuhr scheppernd davon, als die Flugblattverteiler Handzettel unter die Scheibenwischer klemmten. Die SA-Leute brüllten dem Wagen Verwünschungen hinterher. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und zeigte eine geballte Faust. Die SA-Leute begannen, dem Taxi nachzurennen. Der Wagen wurde schneller und stieß fette Abgaswolken aus. Hustend kapitulierten die Braunhemden.
Louis Adlon tippte Randhubers Kippe mit der Schuhspitze an. »Was meinen Sie, Meunier? War das eben ein Bewunderer unseres neuen Reichskanzlers?«
»Zufällig kenne ich den Fahrer, Herr Generaldirektor. Er wird nachher bestimmt nicht am Straßenrand stehen und Armstreckübungen machen.«
»Seien Sie unbesorgt, es kommen trotzdem genug. Halb Berlin wird auf den Beinen sein. – Geht das eigentlich mit dem Polizeischutz in Ordnung? Bin wirklich nicht darauf erpicht, daß man uns womöglich vor Begeisterung die Scheiben eindrückt!«
»Ja. Telefonisch zugesichert hat man es uns bereits vom Präsidium am Alex.
Eine ganze Hundertschaft sperrt den Gehweg unmittelbar vor dem Hotel. Ab sechs wird dann niemand mehr reingelassen. Die Marschierer sollen sich schon jetzt im Tiergarten sammeln. Um acht Uhr geht es offiziell los: Brandenburger Tor, Linden, Reichskanzlei.«
»Und wie lange wird das Theater dauern?«
»Man rechnet bis Mitternacht.«
Louis Adlon nickte stumm und deutete nach oben. Faß-Rüdiger, Rüdiger Schöffler aus dem Heizungskeller, und zwei weitere Hausarbeiter befestigten an den Balkongittern im vierten Stock bettuchgroße Hakenkreuzfahnen.
Karl stellte sich neben L. A. und schlug den Mantelkragen hoch. »Wenigstens wird man die Lappen in der Dunkelheit nicht sehen.«
»Wenigstens habe ich sie nicht bezahlen müssen«, knurrte Louis Adlon und schob Randhubers Kippe mit der Schuhspitze in einen Gully. »Die Flaggen sind eine edle Spende vom NSDAP-Wirtschaftsamt, Meunier, damit sich die Herren Direktoren aus der Industrie im Adlon so richtig wohl fühlen und auf die neuen Zeiten eingestimmt werden. Herr Randhuber hat sogar an Swastikawimpel für die Schreibtische in den Arbeitszimmern gedacht.«
»Ich hatte das Vergnügen, Kassner zu beobachten, wie er sich einen Wimpel für die Rezeption erbat.«
»So, hat er das?« sagte Louis Adlon mürrisch.
Vor dem Hotel hielt eine schwarze Horch-Limousine der Reichswehr. Karl erkannte seinen Freund Hajo.
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