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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Der Reichskanzler persönlich traf sich gestern mit hochrangigen Vertretern der Chemieindustrie, um sich die diversen Forschungsprojekte auf diesem Gebiet erläutern zu lassen. Dr. Bruno Randhuber vom NSDAP-Wirtschaftsamt betonte ausdrücklich, daß auch ausländische Investoren eingeladen seien, sich zu beteiligen. Erste Kontakte hätten sich bereits ergeben.
    Ein kleineres Foto zeigte Randhuber mit Holtsen im Adlon -Foyer.
    Frau Meunier unterbrach ihr Gespräch mit Vera. »Karl!«
    »Ja?«
    »Mußt du ausgerechnet jetzt Zeitung lesen!«
    »Natürlich nicht, Maman, ich dachte, ihr unterhaltet euch!«
    »Das ist doch kein Grund!« sagte Frau Meunier vorwurfsvoll.
    »Ich habe bloß schnell nachgesehen, was mich morgen im Adlon erwartet. Meistens veröffentlicht die Nachtdepesche die Namen unserer prominenten Gäste.«
    »Ach so! Dann lies ruhig weiter.« Frau Meunier nahm ihre Plauderei mit Vera wieder auf.
    Alles, was mit dem Adlon zu tun hatte, war für sie sakrosankt. Die Tatsache, daß ihr Sohn in dem berühmten Hotel Unter den Linden arbeitete, erfüllte sie mit größtem Stolz. Einer Cousine hatte sie ein Foto im Briefumschlag beigelegt und es auf der Rückseite beschriftet: Mein Karl und Direktor Louis Adlon .
    »So – schon erledigt!« Karl legte die Zeitung weg und setzte sich zu den Frauen.
    »Du ziehst ja das Bein nach, Karl!« sagte Frau Meunier. »Warst du etwa wieder raufen?« In der Stimme klang Vorwurf mit.
    Karl hatte wiederholt versucht zu erklären, was er in Erich Rahns Übungskeller trieb. Sie hatte immer nur gesagt: »Aber das ist doch Raufen! Dein Vater, Karl, war ein guter Fechter. Raufen ziemt sich nicht für einen Meunier!«
    Er verzichtete auf eine neuformulierte Form der Rechtfertigung. Vera schmunzelte.
    Auf dem Weg zur Florastraße gingen sie durch ein dichtes Schneegestöber.
    Vera sagte: »Sie ist schon schrullig, deine Maman , aber sie hat unbestritten Stil. – Nur eins möchte ich gerne wissen. Was denkt sie eigentlich über unseren Altersunterschied?« Sie verlangsamte ihren Schritt, als ob sie die Auslagen in einem Geschäft anschauen wollte, und rollte schnell einen Schneeball. Karl war langsam weitergegangen.
    »Das, mein liebes Kind, macht ihr bestimmt kein Kopfzerbrechen. Mein Vater war immerhin achtzehn Jahre älter als sie.« Karl kicherte und warf sich in die Brust. »Ist halt so üblich in den besseren Kreisen!« Er drehte sich nach ihr um.
    »Oller Snob!« Vera warf den Schneeball.
    Karl duckte sich. Der Schneeball flog dicht an seinem Kopf vorbei.
    »Rache ist Blutwurst!« rief er und griff in den Schnee.
    Vor der Haustür klopften sie sich gegenseitig die Mäntel ab. »Ein bißchen Bewegung an der frischen Luft bringt doch gleich das Blut in Wallung«, sagte er.
    »Und praktisch ist es auch, Karl. Wir haben heute nicht geheizt«, sagte sie.
    Im Briefkasten lag ein Telegramm: FRAU FLEISCHER ERKRANKT STOP BITTE AM SIEBENUNDZWANZIGSTEN IHRE FRÜHSCHICHT ÜBERNEHMEN STOP SCHICKE WAGEN PUNKT SECHS STOP ADLON.
    »Das wird eine verdammt kurze Nacht«, sagte Karl.
    »Soll ich lieber im Wohnzimmer schlafen?« fragte Vera.
    »Quatsch!« sagte Karl.

10.
    E INE ROTE G LASKUPPEL ZERPLATZT
    Karl erwachte gegen fünf Uhr, noch bevor der Wecker läutete. Er stellte ihn für Vera auf neun und schlich sich aus dem Zimmer. Es war eine sternklare Nacht. Der Schnee vom Vortag war liegengeblieben. Karl zündete alle Ringe auf dem Gasherd an und setzte den Wasserkessel auf die größte Flamme. Eine Viertelstunde später war er frisch rasiert und trank einen Kräutertee. Dann stellte er für Vera eine Tasse hin, fand auch einen sauberen Frühstücksteller, Messer und Teelöffel. Unten fuhr ein Wagen vor. Auf der Küchenuhr war es genau sechs. Karl schaute aus dem Fenster und drehte das Gas aus. Er zog sich einen Mantel über und suchte nach dem Schal. Er lag neben der Aktentasche. Karl erinnerte sich an den Erzählband für Vera. Er ging in die Küche zurück und legte das Buch auf den Tisch neben die Tasse.
    Mirow saß am Steuer. »Was ist denn mit Lilo?«
    »Hat die Grippe. Die halbe Adlon -Mannschaft liegt danieder. Zwei von meinen Fahrern auch. Fieber, Husten, Schnupfen, alles, was dazugehört.«
    Mirow scherte hinter einem Streufahrzeug aus. Auf der Lade fläche des offenen Lastwagens standen zwei Männer und warfen Sand auf die Fahrbahn. Sie schwenkten die Spaten mit gleichmäßiger sensenförmiger Bewegung über die Ladebordwand.
    »Mit denen möchte ich nicht tauschen«, sagte Mirow.

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