Unter den Linden Nummer Eins
»Es ist saukalt und stellenweise spiegelglatt. Auf der Schloßbrücke haben sich schon zwei Lieferwagen geküßt.«
»Bin nicht gerade sehr erbaut, heute zwei Schichten zu schieben.« Karl verkroch sich in seinem Sitz.
»Tröste dich! Ich muß heute auch voll ran.« Mirow überholte ein Pferdefuhrwerk. Die Tiere hatten Mühe, sicher zu gehen. Immer wieder rutschten die Hufeisen weg. Die massigen Hannoveraner dampften vor Anstrengung.
Mirow fuhr in den Wirtschaftshof. Der Mercedes von Louis Adlon parkte neben dem Anhänger mit den leeren Weinfässern. Man sah den Generaldirektor selten zu so früher Stunde im Haus. Karl erinnerte sich an den Zeitungsartikel. Der IG-Farben-Vorstand hatte ein Arbeitsfrühstück um halb neun anberaumt.
Faß-Rüdiger und andere Hausarbeiter fegten Schnee. Ein Gemüsewagen wurde entladen.
Chefkoch Fliegenwald ließ einen Sack mit Kartoffeln zurückgehen. »Das ist Schrott, die haben Frost gekriegt! Streichen Sie den Posten aus dem Lieferschein, Fräulein Schulte!«
Fräulein Schulte aus der Buchhaltung strich mit rotem Kopierstift. Fliegenwald kritzelte sein Kürzel.
Karl grüßte und erhielt von Fliegenwald ein knurriges Morjen ! Fräulein Schulte nickte freundlich.
Louis Adlon sah angeschlagen aus. Als Karl das Büro betrat, tröpfelte er Hustensaftextrakt auf einen Teelöffel mit Zucker.
»Vorgestern hat es meine Frau und ausgerechnet heute hat es mich auch erwischt.« Er löste die Medizin in einem Glas Wasser auf, trank und verzog das Gesicht. »Brrr!«
Karl studierte die Pinnwand mit dem Veranstaltungskalender. Das Arbeitsfrühstück für den IG-Farben-Vorstand war bis 9.30 Uhr angesetzt, Mittagessen sollte gegen 13 Uhr serviert werden, und ab 18 Uhr war ein Diner eingeplant.
»Tut mir leid, daß ich Sie zusätzlich einplanen mußte!« Louis Adlon schraubte das Medizinfläschchen zu. Es verschwand in der Westentasche. »Aber ich brauche Sie unbedingt im Haus. Geheimrat Duisberg bat mich um eine Vertrauensperson, die während der Sitzungen drüben in der Berliner Hauptverwaltung gewährleistet, daß niemand, aber auch niemand, sein oder Doktor Kränzleins Zimmer betritt.«
»Doktor Kränzlein ist als Leiter des neuen Kunststoff-Forschungsinstituts im Gespräch.«
»Ja. Er hat Berge von Akten antransportiert. Im Augenblick hält Herr Klempert Wache auf dem Flur, aber ich brauche ihn heute auch dringend an der Rezeption. Kassner sehe ich ungern den ganzen Tag alleine in der Halle. Herr Klempert wird Sie aber von Zeit zu Zeit ablösen. Übrigens: Zwei Beamte in Zivil patrouillieren auch durch das Gebäude, auf Wunsch von Herrn Doktor Randhuber.«
»Ich werde sie erkennen, wenn sie auftauchen. – Welche Zimmer haben Herr Duisberg und Doktor Kränzlein?«
»Eins null vier und eins null fünf.«
Karl machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Emil Klempert unterhielt sich mit dem Nachtetagenkellner.
»Das Zimmermädchen darf auch nicht rein?«
»Nein«, sagte Klempert. »Absolut niemand.«
»Ablösung, Emil!« Karl bat den Kellner, ihm eine Morgenzeitung zu holen, und schüttelte Klempert die Hand.
»Dann geh ich mal rasch frühstücken, soll ich dir was hochschicken?«
»Der Kellner kann mir einen Tee machen«, sagte Karl. »Ich esse später.«
»Ich löse dich so um neun ab. Reicht das?«
»Ich werde bis dahin nicht verhungert sein«, sagte Karl.
Geheimrat Duisberg und Doktor Kränzlein traten fast synchron aus ihren Appartements. »Guten Morgen, die Herren!«
»Sehr beruhigend, Sie zu sehen«, sagte Duisberg und zückte seine Brieftasche.
Doktor Kränzlein war schneller. » Sehr beruhigend!« wiederholte er und drückte Karl einen Geldschein in die Hand.
»Doppelt hält besser«, sagte Duisberg. Ein weiterer Schein verschwand in Karls Ziertuchtasche.
Karl verbeugte sich. »Danke, die Herren!«
»Nach dem Frühstück müssen Doktor Kränzlein und ich uns noch einmal bei mir besprechen. Dann haben Sie für zirka eine Stunde Wachpause.«
»Herr Klempert wird mich in dieser Zeit vertreten und sichergehen, daß auch dann niemand das Zimmer von Herrn Doktor betritt. Sicher ist sicher!« sagte Karl.
Duisberg klopfte Kränzlein auf die Schulter. »Da hören Sie es, Kränzlein! Im Adlon bleibt nichts dem Zufall überlassen!«
Karl rückte im Etagenservicezimmer den Stuhl an die offene Tür. Der Kellner brachte die Frühausgabe der Berliner Morgenpost . Ein Lämpchen über der Konsole mit den Serviertabletts glühte auf.
»Das ist Bankier Tiedke. Er
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