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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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»Ich muß mich jetzt ein wenig beeilen. Also, ab die Post!«
    Sie gingen dicht an den Häusermauern entlang, aber es half nicht viel. Ein flüchtiger nasser Kuß, dann trennten sie sich.

9.
    C ONTENANCE!
    Der Reiseführer Zwischen Asse und Elm war reich bebildert. Fotos zeigten Landarbeiter bei der Ernte. Auf blühenden Sommerwiesen graste das Vieh. Ein Maler posierte vor dem Dom in Königslutter an seiner Staffelei. Ein breitkrempiger Strohhut schützte ihn vor der Sonne. In einem Ausflugslokal im Reitlingstal saßen hemdsärmlige Männer und spielten Karten. Für Vera hatte Karl ein Buch von Anna Seghers bei Asher und Co. gekauft: Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen.
    Der Raucherwaggon war voll besetzt. Es war Feierabendzeit. An der Schiebetür in der Wagenmitte sah Karl seinen Hausmitbewohner Wernecke. In dem Bündel, das er in der Hand hielt, war vermutlich Kleinholz zum Feueranmachen. Wernecke war Tischler.
    Die Heizkörper unter den harten S-Bahn-Bänken strahlten kaum Wärme ab. Karl streifte mit dem Mantelärmel über die beschlagene Scheibe. Der Zug glitt durch einen grauen Winterabend ohne Schnee.
    Am S-Bahnhof Pankow-Nord stieg Karl aus. Ein Anschlag auf dem Bahnsteig warnte vor Taschendieben. Aus dem Ofenrohr von Vater Binders Zeitungsbude stieg dünner Rauch auf.
    Wernecke war lange vor ihm an der Sperre. Der Fahrkartenknipser in dem beichtstuhlartigen Häuschen hatte eine alte Militärdecke um seine Beine gewickelt.
    Als Karl die Treppe zur Nordbahnstraße hinunterging, spürte er wieder den Schmerz in der Wade. Er war beim Training an den Weißen Riesen geraten und hatte mit ihm Fußwürfe geübt. Vor ihm hatte selbst Benno Respekt. Der Weiße Riese – er trug eine lange weiße Hose zur Kimonojacke, nicht wie die anderen schwarze kurze –, Günther mit Vornamen und Müllfahrer von Beruf, hätte mit seiner Spezialtechnik selbst einem Elefanten mit Leichtigkeit die Beine wegfegen können. Und er, Karl, hatte dummerweise zu kontern versucht. ›Bin selbst schuld‹, dachte Karl. ›Was für ein Teufel hat mich bloß geritten, dagegenzuhalten!‹
    Vater Binders Zeitungsstand war ein wackliger Kiosk Wollank-, Ecke Nordbahnstraße.
    »Mensch, Karl, du läufst, als hätte dich ein Pferd getreten!«
    »Wenn du wüßtest, wie nahe das an der Wahrheit dran ist! – Kleines Malheur beim Training, nix Dramatisches.«
    Vater Binder bediente einen Kunden, scharrte in der Keksbüchse nach dem Wechselgeld. »Schönen Abend noch!«
    »Gleichfalls.«
    Er wartete, bis der Kunde seine gefaltete Zeitung in der Aktentasche verstaut hatte und gegangen war. Dann sagte er: »Hans hat geschrieben. Es geht ihm gut.«
    »Schön zu hören«, sagte Karl. »Sonst noch was?«
    »Er scheint jetzt ein Mädel gefunden zu haben. Schrieb was von Heirat.«
    »Das hätte sicherlich Vorteile, wegen der Aufenthaltsgenehmigung. – Was sagt Vera dazu?«
    Vater Binder grinste. »Kennst ja ihre Meinung. Zu jung, und so weiter. Aber in Anbetracht der Lage scheint es ihr auch die vernünftigste Lösung.«
    Karl nahm eine der Abendzeitungen.
    »Ist immer was los bei euch am Pariser Platz.« Vater Binder beäugte skeptisch das Foto mit den IG-Farben-Direktoren vor dem Brandenburger Tor auf der Titelseite.
    »Sie halten morgen eine Konferenz im Verwaltungsgebäude ab«, sagte Karl, »und wollen ein Kunststoff-Forschungsinstitut auf die Beine stellen.« Er sah sich das Foto genauer an. Die Druckqualität war schlecht, aber Karl meinte zu erkennen, daß Randhuber von Geheimrat Duisberg und Doktor Kränzlein flankiert wurde. Ausnahmsweise logierte er mit den beiden Herren zusammen im Adlon .
    »Sie sollten lieber für Arbeit sorgen, wo alle was von haben, nicht bloß einige Elitewissenschaftler. Die Leute brauchen Brot und Butter und vernünftige Kleidung, vernünftige Wohnungen und keine Kunststoffe. Die Giftgasfabrikanten im Krieg haben sich goldene Nasen mit Chemie verdient. Die haben immer Arbeit. Ist doch die gleiche Clique, die jetzt wieder dicke absahnt!« Vater Binder sagte bitter: »Theo Höhne haben sie auf die Straße gesetzt, nach zwanzig Jahren Schuften bei der Bahn! Wäre er Beamter gewesen, hätten sie das nicht so leicht gekonnt. Aber einem einfachen Streckenarbeiter drückt man mir nichts, dir nichts die Papiere in die Hand: »So, Alter, jetzt geh mal schön stempeln!«
    »Was will er machen?«
    »Was er machen will? Du scherzt, Karl! Glaubst du etwa, ein ausgelaugter Sechzigjähriger kurz vor der Rente

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