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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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bekommt irgendwelche Arbeit heutzutage? – Theo hilft mir morgens für ein paar Stunden mit den Zeitungen. Paßt mir ganz gut in den Kram, wo Hans ja weg ist.«
    Die nächste S-Bahn kam und mit ihr ein neuer Schwung Kunden. Karl griff in die Manteltasche.
    »Laß gut sein! – Vera ist übrigens zwei Züge vor dir gekommen. Sie ist schon zu deiner Mutter gegangen.«
    Karl tippte mit der gerollten Zeitung gegen die Hutkrempe.
    In der S-Bahn-Unterführung saß ein Scherenschleifer und schärfte einer älteren Frau ein Küchenmesser. Als er das Schwungrad antrat, das den Schleifstein trieb, sprühten die Funken. Zwei Kinder spielten zwischen den Brückenpfeilern Einkriege. Der Scherenschleifer rief sie barsch zur Ordnung. »Jetzt is Schluß mit’m Rumjetobe! Werd ja janz rammdösig im Kopp. Ab nach Hause!« Er gab ihnen einen Schlüssel.
    Am ehemals hochherrschaftlichen Haus in der Kreuzstraße blätterte der Putz. Einen Hauswart gab es auch nicht mehr, der nach dem Rechten schaute.
    Karl blickte durch das Flurfenster. Müllreste lagen achtlos zwischen den Tonnen.
    Frau Meunier bewohnte noch immer die geräumige Vierzimmerwohnung alleine. Einen Untermieter aufzunehmen hatte sie sich, trotz aller finanziellen Enge, mit Entschiedenheit geweigert. » Dein Vater würde sich im Grabe umdrehen «, war ihr Standardargument, wenn Karl dieses Thema anschnitt.
    Vera und Karls Mutter saßen in der guten Stube und tranken Chinatee. Der parfümierte Schwarztee war ein kleiner Luxus, den sie sich nur zu besonderen Gelegenheiten leistete. Der Alltag sah Malzkaffee oder Pfefferminztee.
    Nach anfänglicher Skepsis – » Gottbewahre, Karl, eine von der Krücke? « – hatte sie doch Vertrauen zu Vera gefaßt, weil die elegante und zuvorkommende Vera – » Fräulein Binder hat Manieren! « – so gar nicht das Vorurteil bestätigte, das sie gegen die Anwohner der Koloniestraße und Umgebung hatte. ( »Das sind sehr einfache Menschen, die dort wohnen, Karl. Vergiß nie, wo du aufgewachsen bist!« )
    Auf dem Vertiko hinter den Frauen standen gerahmte Fotografien. Der Vater als Dragonerleutnant, der Vater, wie Prinz Eitel-Friedrich ihm anläßlich eines Veteranentreffens die Hand schüttelt; dann das Hochzeitsfoto vor dem Französischen Dom und natürlich Karl: Karl als Primaner, Karl als Offizier, Karl, der gerade Thomas Mann chauffiert.
    Frau Meunier mochte Thomas Mann. Hesse war ihr zu freizügig – sie hatte den Siddhartha nach der Hälfte weggelegt –, von Tucholsky hatte sie Rheinsberg gelesen und dann nichts mehr von ihm für gut befunden. Die amerikanischen Autoren, die Karl ihr brachte, waren ihr zu modern.
    Wenn sie das Haus verließ, um ihre Einkäufe zu erledigen, bot sie weiterhin die Erscheinung einer Dame des wohlhabenden Bürgertums, obgleich die Rente und Karls kleine Unterstützung kaum große Sprünge zuließen. » Wir Meuniers lassen uns nie gehen! « pflegte sie zu sagen.
    Zu Ehren von Fräulein Binder hatte sie ihr bestes Kleid aus dem Schrank geholt, dunkelvioletter Samt mit altmodischen Rüschen an den Ärmeln. Karls Mutter hatte für sich die Formel gefunden, daß die »Verlobte« ihres Sohns Künstlerin war. – Daß Vera in Kabaretts und Varietés auftrat, zog sie vor zu ignorieren.
    Karl wußte um die Schrulligkeiten seiner Mutter und hatte Vera vor der ersten Begegnung vorsichtig gewarnt. Dennoch achtete Karl ihre Marotten. Das Zubrot, das er zu ihrem Haushalt zusteuerte, hatte sie erst nach längerem Zögern angenommen. Frau Meuniers Französisch war so altmodisch wie die Kleidung, auf die sie peinlich genau achtete. Sie verließ das Haus stets überkorrekt gekleidet, selbst wenn sie nur über die Straße in die Metzgerei ging, um einmal in der Woche dort ein bescheidenes Achtel Leberwurst zu kaufen. » Il faut toujours qu’on garde la contenance! « hieß ihr Leitspruch in allen Lebenslagen. Das Preußische und das Hugenottische verbanden sich nahtlos in Frau Meunier.
    Vera hatte bloß gelacht. »Wie alt ist sie? Über siebzig? Dann wird sie sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Sei mal unbesorgt, ich kann gut mit alten Damen!«
    Vera hatte recht behalten. Beim Antrittsbesuch brachte sie Blumen und selbstgebackenen Kuchen mit und machte artig Konversation. Frau Meunier war sehr angetan gewesen.
    Karl setzte sich neben die Standuhr. Die Frauen plauderten. Karl las Zeitung.
    Das Deutsche Reich braucht eine leistungsstarke Kunststoffproduktion, um in der Zukunft von teuren Importen unabhängig zu werden.

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