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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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hätte«, sagte Karl. Er gab die Zeitung zurück. »Ich erzähle es dir später. – Meine Bahn kommt gleich.«
    Verwundert schaute Vater Binder ihm nach.
    Auch in der S-Bahn war die Röhm-Entmachtung Gesprächsthema Nummer eins.
    Karl gelang es nur mühsam, seine Gedanken zu ordnen. Der Zug fuhr an, rollte über die Wollankstraßenbrücke.
    Kassner, das wurde ihm immer deutlicher, hatte SA-Obersturmbannführer Dinkel geschickt ans Messer geliefert und damit genau den Zeugen beseitigt, der offenbar die Waffenbeschaffung der Berliner SA organisiert hatte. Waffen, falls man der Nazi-Presse Glauben schenken konnte, für eine SA-Revolte gegen Hitler? – Oder war alles ganz anders? Was wußte die Gestapo zum Beispiel über Kassner? Hatte sie vielleicht sogar Kenntnis vom Verkauf der Berettas an de Neva und hatte das vordatierte Dokument beschafft? Und wenn ja, weshalb? Um eine Handhabe gegen die SA zu konstruieren, wegen bewaffneter Umsturzpläne? War Kassner ein Rädchen in der Maschinerie gewesen, um die unbequemen SA-Führer auszuschalten? War Kassner womöglich ein Agent provocateur der Gestapo ? In Karls Kopf drehte sich wieder alles.

16.
    B ROT UND S PIELE
    Röhm weinte niemand eine Träne nach. Daß die Anzahl der jüdischen Studenten quotiert worden war, regte, bis auf Ausnahmen, nur die Betroffenen auf. Auch daß Thomas Mann jetzt in der Schweiz lebte und Juden keine Beamten mehr sein durften – es stand in der Zeitung, und da stand vieles.
    Karl verlor langsam den Glauben an seine Mitmenschen. Deutschland arrangierte sich: Der Arbeitsdienst baute die Autobahnen, das Winterhilfswerk kümmerte sich um die Bedürftigen und deutsche Mütter erhielten das Mutterkreuz. Was zählte dagegen der Freitod von Tucholsky, wenn KdF-Schiffe deutsche Menschen für einen Spottpreis zu den spanischen Inseln fuhren?
    Ordentlich ging es zu in Deutschland. Es gab Arbeitslager für die Faulen, Konzentrationslager zur Umerziehung für Kriminelle, auch für Sozialisten und Kommunisten, denn die waren schließlich verboten worden, also illegal. Es gab Ehestandsdarlehen und mehr Kindergeld und für die Neuvermählten auf dem Standesamt obendrein ein Buch gratis.
    Kaum ein Tag verstrich ohne Aufmärsche unter Hakenkreuzbannern oder Lichtdomen: Reichsarbeitsfront präsentierte den Spaten, Sternfahrer des NS-Kraftfahrercorps sangen das Horst-Wessel-Lied vor dem Bürgerbräu-Keller . Kassner war natürlich dabei. Reichsberufswettkämpfer der Bäcker und Konditoren gelobten völkische Gesinnung bei der Erzeugerschlacht, auch die Adlon -Bäcker gewannen einen Preis. Die allgemeine Wehrpflicht wurde wieder eingeführt. Benno und der Weiße Riese kamen zur Marine.
    Die Presse war weitgehend gleichgeschaltet, der Rundfunk ein Sprachrohr des Propagandaministeriums. Ausländische Zeitungen erhielt man fast uneingeschränkt, aber wer las schon die New York Times oder den France Soir . Außerdem waren sie teuer.
    Nachdem der Ullstein Verlag für lächerliche zwölf Millionen Reichsmark dem nationalsozialistischen Presseimperium einverleibt worden war (die Berliner Morgenpost bemühte sich bis zuletzt um eine unabhängige Berichterstattung), hatte es Karl aufgegeben, regelmäßig eine deutsche Zeitung zu lesen. Im Adlon lagen die wichtigsten internationalen Blätter aus. Karl studierte sie täglich ausgiebig.
    Die Arbeitslosenzahlen sanken. Die Saar war wieder deutsch. Radiogeräte wurden immer billiger. KdF-Reisen ermöglichten selbst Arbeitern luxuriöse Kreuzfahrten durch die norwegischen Fjordlandschaften.
    Vater Binder sagte nur: »Gab’s alles schon mal im Alten Rom: Kriegt die Masse Brot und Spiele, dann muckt sie nicht auf, egal, wie beschissen sonst alles ist!«
    Mit dem Brot, genauer gesagt, mit der Fettversorgung haperte es allerdings. Die Auslandsimporte waren regierungsseitig gedrosselt worden, da wegen der Rüstungsanstrengungen Devisen gespart werden mußten. Goebbels hatte eine seiner feurigen Reden gehalten: »Ohne Fett kann ein Volk überleben, ohne Kanonen nicht!«
    Das Murren über teure Fleischpreise blieb, aber dem Durchschnittsbürger blieb kaum etwas anderes übrig, als sich an die einheimischen Ersatzprodukte zu gewöhnen. Weihnachtskarpfen statt Weihnachtsgans, weniger Wurstbelag, dafür mehr Marmelade.
    Im Adlon herrschte selbstverständlich weiterhin kein Mangel an getrüffelter Gänseleberpastete, Atlantikhummer oder Fasanenbrüstchen. Die Großen des Reichs zeigten sich gerne beim Eintopfessen in der Öffentlichkeit,

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