Unter den Sternen von Rio
wenn sie demnächst ihre Reise in eine strahlendere und freiere Zukunft antrat?
Denn das stand für sie fest: Als Ehefrau von Henrique Almeida Campos wäre endlich Schluss mit der ewigen Bevormundung durch ihre Mutter. Vorbei wäre es dann mit der Eingezwängtheit, den erdrückenden gesellschaftlichen Zwängen, denen sie hier im Elternhaus unterworfen war. Schließlich lebten sie nicht mehr auf einer Kaffee-Fazenda zur Zeit der Sklaverei, sondern in den zwanzig er Jahren des 20 . Jahrhunderts! Die Zeiten hatten sich geändert – und ihre Eltern hatten es nicht bemerkt. »Wohlbehütet« mochten manche das Leben nennen, das Ana Carolina hier in Rio führte. Sie selber empfand es als unerträglich altmodisch und eingeengt.
Vielleicht lag es am Alter ihrer Eltern. Dona Vitória wurde demnächst sechzig Jahre alt, Don León war sogar über siebzig Jahre. Die beiden waren in Ana Carolinas Augen einfach zu betagt, um eine 23 -jährige Tochter zu haben. Es ließ sich leicht ausrechnen, dass Dona Vitória ihre Tochter bekommen hatte, als sie schon 37 Jahre alt gewesen war. Das war einfach unanständig! Leute in diesem Alter sollten keine Kinder mehr in die Welt setzen, schon gar nicht, wenn sie bereits zwei Söhne hatten.
Ana Carolinas Brüder waren mehr als zehn Jahre älter als sie und hatten längst eigene Familien gegründet. Der Kontakt zu ihnen war nicht sehr eng gewesen, der Altersunterschied war einfach zu groß. Dennoch liebte Ana Carolina die beiden; den älteren, Pedro, mehr noch als den zweiten, Eduardo. Manchmal verbrachte sie ein paar Tage bei Pedro und seiner Familie, die in São Paulo lebten, und jedes Mal genoss sie die Freiheiten, die sie dort hatte. Pedro fand nichts dabei, wenn sie Kleider mit riesigem Rückenausschnitt trug, und seine Frau Francisca bot ihr sogar Zigaretten an. »Moderne Frauen rauchen nun einmal«, fand Francisca, »es ist ein Zeichen unserer Gleichberechtigung.«
Ihre schrecklich altmodischen Eltern dagegen verboten Ana Carolina sowohl den Tabakkonsum wie auch das Tragen allzu offenherziger Mode. Sie erlaubten ihr eigentlich gar nichts, was Spaß machte. Sie meckerten herum, wenn ihre Tochter Alkohol trank, sie hatten an den meisten ihrer Freunde etwas auszusetzen, und sie lehnten jeden ihrer Berufswünsche ab.
»Du kannst nicht Pilotin werden, Liebling.«
»Eine junge Dame deiner Herkunft muss kein Geld verdienen.«
»Eröffne doch einen literarischen Salon oder versuche dich als Künstlerin.«
»Erinnern wir uns doch bitte einmal an das letzte Mal, da du der Welt deine Unabhängigkeit beweisen wolltest …«
»Du kannst reisen, Tennis spielen und dich all deinen persönlichen Interessen widmen, so viel du willst.«
»Wer will denn freiwillig arbeiten gehen? Und als was? Willst du etwa Gouvernante werden oder gar Tippmamsell?«
»Wir finanzieren dir ein Leben in Luxus. Was willst du mehr? Du bist undankbar!«
Das waren die Kommentare, die Ana Carolina meist zu hören bekam. Es seien Liebe und Fürsorglichkeit, hatte Pedro ihr einmal zu erklären versucht, die aus den elterlichen Verboten sprächen. Aber Ana Carolina kam es so vor, als sei es eher Neid auf ihre Jugend sowie die Möglichkeiten, die sich Frauen heutzutage boten – sofern ihre Väter oder Ehemänner sie unterstützten. Ana Carolina hätte durchaus Medizin studieren oder einen Pilotenschein machen können, wenn ihr Vater sich für sie eingesetzt hätte. Ohne seine Einverständniserklärung jedoch ging gar nichts. Selbstbestimmung war anscheinend etwas, das den ärmeren Frauen vorbehalten war. Oder mussten Köchinnen, Krankenschwestern und Lehrerinnen etwa auch die Genehmigung eines Mannes vorlegen, um ihren Beruf ausüben zu können? Bestimmt nicht.
Wütend riss Ana Carolina ein langes Seidenkleid aus ihrem Schrank. Es war schwarz, eng geschnitten, schulterlos und auch zwei Jahre nach der Anschaffung noch immer sehr gewagt. Weg damit! Dieser blöde Fummel hatte sie ein Vermögen gekostet – und beinahe auch noch ihren guten Ruf. Es erfüllte sie bis heute mit Scham, dass ihr erster und einziger Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen, so kläglich gescheitert war. Wie war sie jemals auf den irrsinnigen Gedanken gekommen,
irgendetwas
vor ihrer Mutter geheim halten zu können?
Als sie ihr Literaturstudium begann, als eine der ersten Frauen Rios, war ihr schnell klargeworden, dass die akademische Welt sie nicht im mindesten reizte. So hatte sie sich auf die Suche nach einer Arbeit als Pianistin gemacht,
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